Köln – Das Urteil im Strafprozess zum Einsturz des Stadtarchivs mit drei Freisprüchen und einer Bewährungsstrafe für einen Bauüberwacher der Kölner Verkehrs-Betriebe überrascht nicht nur Hanns Feigen als Anwalt der Baufirmen.
Vor allem ist Frank P. (50) „ganz schön enttäuscht“. Er ist der Stiefvater von Kevin K., dem Bäckerlehrling, der am 3. März 2009, kurz vor 14 Uhr mit einem Nachbarn in den Trümmern seiner Wohnung in die Tiefe gerissen wurde und starb. „Es ist ein Schlag ins Gesicht“, sagt P.
„Jetzt haben wir noch mehr zu verarbeiten“
Und das, obwohl er nach der fast drei Stunden langen Urteilsbegründung durch Richter Michael Greve die Entscheidung des Gerichts nachvollziehen kann. „Mein Sohn ist gestorben“, sagt P. an der Seite seines verstört wirkenden Sohnes Marvin P., einem Halbbruder von Kevin K. „Ich muss das sacken lassen. Eigentlich haben wir die Nebenklage eingereicht, weil wir etwas verarbeiten wollten. Jetzt haben wir noch mehr zu verarbeiten.“
Richter Michael Greve, der Vorsitzende der 10. Großen Strafkammer, weiß um die öffentliche Wirkung – nicht nur weil zwei Dutzend Fotografen, Kameraleute und Nachrichtenschreiber das Prozessende beobachten. „Die öffentliche Erwartung ist nicht der Maßstab unseres Entscheidens“, sagt Greve.
Mit der gleichen Akribie und Gründlichkeit, mit der die Kammer Akten sichtete – 100 Millionen Blatt lagen vor –, Aussagen prüfte und die gesetzlichen Möglichkeiten abwog, erklärt der Richter fast drei Stunden lang das Urteil. „Eindeutig“ sei ein gravierender Fehler in der Herstellung einer Schlitzwand die Unglücksursache. Der Einsturz sei vorhersehbar gewesen, aber „wer auch immer in der Arbeitsgemeinschaft der Baufirmen die Entscheidung traf, ein Hindernis nicht zu entfernen – die Betroffenen werden es mit ins Grab nehmen.“
Verkettung unglücklicher Umstände
Greve stellt heraus, dass noch viel mehr Menschen in Gefahr waren und viele Jahrhunderte aufbewahrte Archivalien zerstört sind. Doch sei das Unglück letztlich eine Verkettung unglücklicher Umstände gewesen, die Folge eines Lochs, das über lange Zeit vor dem Unglück mit relativ geringen Mitteln hätte abgedichtet werden können. „Über das Motiv kann man nur spekulieren: ein gewisser Zeitdruck, oder weil die Baugeräte schon verplant waren“, sagt Greve. Den Bauleitern glaube er, dass sie nichts vom Hindernis wussten.
Der Hydrologe, der von den Baufirmen ein Jahr bezahlt und nahezu ohne Aktenkenntnis eine Theorie über „Erosionskanäle“ vorgestellt habe, die es in der Praxis so noch nie gegeben habe, habe nur verwirren wollen. Seine Hypothese letztlich auf einen angeblichen Anrufer zu stützen, der in den Abwasserrohren von der Baustelle zum Rhein ein Rasseln gehört haben will, bezeichnet Greve als „Unfug“.
Greve geht auch auf die Wassermengen ein, die am Waidmarkt abgepumpt wurden. „Es gab sehr viele nicht genehmigte Brunnen. Aber das Konzept musste notgedrungen umgebaut werden.“ Dies hing mit einer spät entdeckten, dünnen Kohleschicht knapp unterhalb der Baugrube zusammen. Risse und Setzungen an Nachbarhäusern hätten dieser Wasserhaltung, wie Gerichtsgutachter Hans-Georg Kempfert feststellte, entsprochen. Sand sei nur in geringen Mengen vor Jahren abgepumpt worden, so dass er keine Rolle spielte.
„Aber es wäre gut, wenn sich das änderte“
Kempferts Gutachten liefere zudem die eindeutige Unglücksursache, so Greve. Und die sei das Loch in der Schlitzwand vor dem Stadtarchiv gewesen. Dort sei der Boden unter den Nachbarhäusern hindurchgerutscht – 5000 Kubikmeter in kurzer Zeit. Dass die Baufirmen gegen diese Theorie angingen hänge mit der Schadenssumme zusammen. Die Stadt Köln hat sie mit 1,3 Milliarden Euro berechnet.
Trotz des Freispruchs hielt Greve dem Bauleiter des Schlitzwandbaus vor, seine Kenntnis über die Beschädigung an der „schwachbrüstigen Fugenkonstruktion“ nicht schriftlich dokumentiert zu haben. Dies sei vielleicht nicht Baupraxis, „aber es wäre gut, wenn sich das änderte“, so Greve. Dass dies – auch wieder in der Praxis – wohl nichts gebracht hätte, weil der nachfolgende Bauleiter für den Ausbau nicht in die Unterlagen geschaut hat, obwohl er einen Schaden an der Fuge sehen konnte, ist Greve klar. Diesen zweiten Bauleiter ermahnte er: „Sie hätten beim vorangegangenen Spezialtiefbau wegen des Schadens nachfragen müssen.“
„Bemerkenswert“ findet Greve, dass trotz der Vielzahl an Akten keine einzige Unterschrift der Leiterin der KVB-Bauüberwachung auf einem Überwachungsdokument zu finden war – außer auf Protokollen von Baustellenbesuchen in Vertretung. „Auf den Formularen gab es nicht mal eine Rubrik für Ihre Unterschrift.“ Greve wundert sich, auch, wie klein die Bauüberwachung der KVB war.
Dann kommt Greve zum verurteilten Bauüberwacher. Er sei der „Überwachungsgarant für die Verkehrssicherungspflicht des Bauherren“, und der Bauherr eröffne die Gefahr, „die Baufirmen buddelten ja nicht aus eigenem Antrieb“. Wie komplex die Baustelle gewesen sei, zeige, dass das Gesetz eine Hoheitliche Bauüberwachung dafür vorgesehen habe. Die Nähe zur Nachbarbebauung, die Probleme beim Erdaushub sowie die schmale Konstruktion hätten „Lamelle 11“ – den Schlitzwandabschnitt vor dem Stadtarchiv – zur Problemlamelle gemacht. Darum habe der Überwacher ganz genau hinschauen müssen. Warum er den Fragen des Gerichts auswich, den unrechtmäßigen Mehrkostenantrag der Baufirma abzeichnete sei nicht verständlich. Und die Prüfung des Betonierprotokolls sei „gewiss kein Hexenwerk“ gewesen. Greve: „Da reicht Dreisatz, Stoff der Klasse sechs.“