Aufschub für fünf Dörfer im Tagebau Garzweiler II. : Erst 2026 wird entschieden, ob sie für den Braunkohleabbau weichen müssen.
Das gibt einigen Einwohnern Hoffnung, auch wenn die Umsiedlungen weiter gehen.
Köln – „Heimat ist für mich der Ort, an dem ich geboren und aufgewachsen bin“, sagt David Dresen aus dem Dorf Kuckum. Hier leben auch seine Eltern und Großeltern auf einem alten Hof. Er hilft den Großeltern. 25 Hühner gibt es noch, drei Pferde sowie Obstwiesen – ein Nebenerwerbsbetrieb. Weil nicht nur Kuckum, sondern auch die Nachbardörfer Keyenberg, Unter- und Oberwestrich, Berverath sowie Lützerath weiter südlich im Tagebaugebiet von Garzweiler II erhalten bleiben sollen, engagiert sich Dresen bei „Alle Dörfer bleiben“. Umsiedlungen wegen des Braunkohleabbaus sind für ihn nicht sozialverträglich.
„Gerade die Älteren werden hart getroffen“, sagt er. Außerdem sei die Kohle unter den Dörfern nicht notwendig, und verfeuert werden dürfe sie schon aus Gründen des Klimaschutzes nicht. Das belege auch ein Gutachten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) im Auftrag von „Alle Dörfer bleiben“. Dieses und weitere Gutachten sowie verschärfte Klimaschutzziele machen Dresen Hoffnung: „Für uns ist völlig klar, dass die Dörfer stehen bleiben.“ Der politische Alltag könne sich aber anders anfühlen. Er spricht von „zermürbender Realität“. NRW-Landesregierung und RWE verhielten sich so, als sei 2026 für die sechs Erkelenzer Dörfer Schluss.
Die Dörfer
Im teils abgerissenen Lützerath wehrt sich ein Landwirt gegen die Umsiedlung. Der letzte Altbewohner hat Aktivisten als neue Nachbarn bekommen, die die Braunkohleverstromung stoppen wollen. Dresen hat noch Nachbarn, auch das Haus gegenüber ist bewohnt. „Vom Tagebau bekommen wir in Kuckum meist nichts mit“, sagt er. Bagger sind nicht zu sehen und nicht zu hören. Es staubt auch nicht wie in Keyenberg, an das sich die Riesen bis auf wenige hundert Meter herangefressen haben.
Die Hälfte von einst 500 Bürgern lebt noch in Kuckum, schätzt Dresen. Die Zahl deckt sich etwa mit der Zählung der Stadt Erkelenz, die im Tätigkeitsbericht von Margarete Kranz, der Umsiedlungsbeauftragten der Landesregierung, zum Ende März 2020 genannt wird.
Ursprünglich hatten die fünf Dörfer 1541 Bewohner in 590 Anwesen. Vor einem Jahr waren es noch 810, knapp die Hälfte davon im größten Ort Keyenberg. Hier gibt es noch eine Grundschule mit zwei Klassen oder einen Bäcker, der an vier Tagen in der Woche vormittags Brot und Kuchen verkauft. Kaum jemand ist an einem Mittwochnachmittag auf der Straße. Die Rolladen an vielen Häuser sind halb oder ganz heruntergelassen, in vielen Gärten ist das Gras kniehoch.
Kuckum wirkt belebter. Auf den meisten Parkplätzen an der Hauptstraße stehen Autos, ein Friseur hat geöffnet. Vor einigen Häusern stehen Container. Eine Bewohnerin erklärt, sie wolle Ballast abwerfen, bevor sie wegzieht. Viele Einwohner haben sich mit RWE über einen Verkauf der Häuser verständigt. Laut dem Tätigkeitsbericht gibt es Stand September 2020 Einigungen für 494 Anwesen. Das entspricht einer Quote von 84 Prozent. RWE gibt aktuell eine Quote von 87 Prozent an, in Keyenberg seien es rund 90 Prozent. Die Entschädigungen richten sich nach einer Revier-weiten Regelung, mit der Bezirksregierung Köln vereinbart, und mit dem Erkelenz-Vertrag umfänglich kodifiziert und verlässlich und damit transparent. Wer an RWE verkauft, darf noch zwei Jahre bleiben. Wird ein Haus verlassen, werden Strom, Heizung und Wasser abgeklemmt. Reparaturen unterblieben, es werde in die Häuser eingebrochen, so Dresen. Aber 200 bis 300 Menschen wollten in den Orten bleiben.
Die Alternative
In einem Schaukasten in Kuckum hängt ein Plan von Erkelenz-Nord, einem Neubaugebiet. Stand Juli sind 318 Grundstücke in den neuen Orten Kuckum, Keyenberg, Unter- und Oberwestrich sowie Berverath verkauft. 69 sind vorgemerkt, 82 noch frei. Möglichst ganze Nachbarschaften sollen in die neuen Dörfer wechseln. „Wir sehen uns wieder“, erklärt ein Plakat der St. Antonius-Schützenbruderschaft Kuckum an der Hauptstraße. Laut RWE leben 62 Prozent der Alteinwohner der Dörfer im neuen Ort. Erkelenz-Nord ist dennoch nicht jederfrau und jedermanns Sache. Ein möglicher Grund: „Mit der Errichtung kommunaler Infrastrukturen am Umsiedlungsstandort (neben dem Friedhof eine Mehrzweckhalle, ein Sportpark und die Feuerwehr) wurde im Jahr 2020 begonnen.“ So heißt es im Umsiedlungsbericht. Die neuen Orte unterschieden sich noch deutlich von den Gewachsenen.
Die Wissenschaft
Bestätigt sieht sich Dresen von „Alle Dörfer bleiben“ von einem im Juni veröffentlichten Gutachten des DIW. Demnach müssen die sechs Erkelenzer Dörfer am Rand des Tagebaus Garzweiler II sogar erhalten bleiben, wenn Deutschland seinen Teil zur Einhaltung der Erderwärmung von maximal 1,5 Grad Celsius im Vergleich zum vorindustriellen Niveau beitragen will. Nach der Studie dürften dazu im Rheinischen Revier nur noch maximal 235 Millionen Tonnen Braunkohle gefördert werden. Davon kommen 35 Millionen aus dem Tagebau Inden. Im Tagebau Hambach stehen nach den Berechnungen der Autoren noch 130 Millionen Tonnen zur Verfügung, 70 Millionen müsste Garzweiler II beisteuern. Zur Verfügung stünden in Garzweiler sogar noch 100 Millionen, wenn der Tagebau mehr oder weniger nur bis zur alten A 61 nach Westen vorangetrieben würde – 30 Millionen Tonnen mehr als im Rahmen des 1,5-Grad-Ziels. Keyenberg, Kuckum, Ober- und Unterwestrich, Berverath sowie das teils abgerissene Lützerath blieben erhalten. Und Schluss mit der Kohleverstromung wäre dann 2028. Die Wirtschaftlichkeit der Kohleverstromung sei seit dem Kohlekompromiss von 2020 ohnehin stark zurückgegangen, etwa wegen eines steigenden CO2 -Preises, heißt es in der Studie. RWE und die NRW-Regierung gehen dagegen noch von knapp 900 Millionen Tonnen Braunkohle aus, die zur Verfügung stehen. In Garzweiler II sind es Stand 1. Januar 2021 laut RWE 630 Millionen Tonnen.
Die Politik
Nach den Empfehlungen der Kohlekommission und der anschließenden Verständigung von Bundesregierung mit den Energieunternehmen von 2020 bleibt nicht nur der Hambacher Forst stehen. Insgesamt wird der Kohleabbau im Rheinischen Revier kräftig reduziert, 2038 spätestens werden die letzten Braunkohlekraftwerke stillgelegt. Die NRW-Regierung hat im März eine neue Leitentscheidung zur Umsetzung des Kohleausstiegs vorgelegt. Demnach beginnt der Kohleabbau anders als ursprünglich geplant im Süden von Garzweiler II. Das gibt den Dörfer Hoffnung.
Über ihre Zukunft soll Ende 2026 entschieden werden. Dann erfolgt die vereinbarte Überprüfung im Rahmen des Kohleausstiegs. Dabei wird bewertet, ob „die Bedingungen erfüllt sind, nach denen der weitere Abbau erforderlich ist.“ Im Klartext: Es wird geprüft, ob die Flächen noch für die Kohleverstromung benötigt werden. Andererseits heißt es in der Leitentscheidung: „Auch über 2030 hinaus dürfte die Braunkohleverstromung Stand heute noch einen wichtigen Beitrag zur Stromversorgung und zur Versorgungssicherheit leisten.“
Die RWE
Einen früheren Ausstieg aus der Kohleverstromung lehnt RWE ab. Ab 2030 soll der Tagebau Garzweiler bis zum Auslaufen der Kohleverstromung die verbleibenden Kraftwerke und Veredlungsbetriebe versorgen. „Die Leitentscheidung setzt die hieraus resultierenden Vorgaben für die Braunkohlenplanung des Landes um und bestätigt auf Basis einer Metastudie die energiewirtschaftliche Erforderlichkeit für das gesamte Abbaufeld Garzweiler“, so RWE im März dieses Jahres in einer Stellungnahme. Die laufende Umsiedlung werde planmäßig fortgesetzt.
Die Vision für die Dörfer
Die Einwohner von Kuckum, Keyenberg, Unter- und Oberwestrich und Berverath wollen laut David Dresen (Fotograf: Sebastian Kiefer) von „Alle Dörfer bleiben“ das Dorfleben wieder in Schwung bringen: Grillen einmal pro Monat, Altennachmittage, ein Frühlingsfest. Auch einen Maibaum wollen sie wieder aufstellen. Wenn die Dörfer bleiben, könnte auch wieder ein Café aufmachen oder ein Restaurant, hofft Dresen.
„Wir wollen die Blaupause für das Dorf der Zukunft werden“, meint er. Energieautark. Junge Familien könnten sich ansiedeln, Stadtflüchtige und Geflüchtete. Die Lage zwischen Aachen, Düsseldorf, Mönchengladbach und Köln sei attraktiv, die Anbindung über Straßen- und Schienennetz ein Pluspunkt. Er sieht großes Potenzial. Allerdings dränge die Zeit. „Bleibt die Zukunft bis 2026 offen, dann macht das die Menschen mürbe und sie ziehen weg“, sagt Dresen. Eine Entscheidung solle in ein bis zwei Jahren fallen. Das sieht Bischof Helmut Dieser aus Aachen ähnlich: „Weitere fünf Jahre Ungewissheit sind für die Menschen nur mit starken Belastungen und Einbußen zu ertragen.“ Manche, die sich in die erzwungene Umsiedlung gefügt haben, fragten sich, ob die Entscheidung richtig gewesen ist. Andere Umsiedler litten darunter, dass die erneute Diskussion es schwer macht, wirklich abzuschließen und den Neubeginn zu gestalten. Dieser fordert eine wesentlich frühere Entscheidung über die Dörfer als 2026. Und er fordert eine Entscheidung für den Erhalt der Dörfer. (raz)