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Interview mit Verdi-Chef„Wenn der öffentliche Dienst personell nicht ausbluten will, sind bessere Gehälter nötig“

Lesezeit 4 Minuten
Streikbereit: Verdi-Chef Frank Werneke

Streikbereit: Verdi-Chef Frank Werneke

Der Gewerkschafter Frank Werneke sieht einen dringenden Handlungsbedarf im öffentlichen Dienst.

Derzeit rollt eine Welle von Warnstreiks durch Deutschland. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi macht Druck auf die Arbeitgeber im Handel und im öffentlichen Dienst der Länder. Die Beschäftigten hätten genug Gründe, auf die Straße zu gehen, sagt Frank Werneke. Thomas Ludwig hat mit dem Verdi-Chef gesprochen.

Herr Werneke, nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Bundeshaushalt steckt die Ampel tief im Schlamassel. Wird die Koalition das überleben?

In dieser haushaltspolitischen Ausnahmesituation Neuwahlen anzustreben, würde die Dinge noch komplizierter machen, als sie ohnehin schon sind. Deshalb gehe ich davon aus, dass die Koalition die Krise überleben und nach entsprechenden Lösungen und Auswegen suchen wird.

Wie mit dem Aussetzen der Schuldenbremse für das laufende Jahr?

Die Entscheidung der Bundesregierung, die Schuldenbremse für 2023 erneut auszusetzen, ist richtig. Das entspricht unseren Forderungen. Im nächsten Schritt ist es nun notwendig, auch für das Jahr 2024 die Schuldenbremse zu stoppen. Mit dem andauernden Krieg in der Ukraine haben wir nach wie vor eine Situation mit erheblichem Preisauftrieb und extrem hohen Energiekosten, die es rechtfertigt, von einer Notlage zu sprechen. Damit gibt es ein starkes Argument für ein Aussetzen der Schuldenbremse, das auch verfassungsrechtlich tragfähig ist. Auf Dauer brauchen wir aber eine grundlegende Reform, die staatliche Investitionen ermöglicht, um etwa die Industrie durch die Transformation hin zu einer nachhaltigen Wirtschaft zu führen oder die Verkehrswege im Land zu ertüchtigen. Investitionen dieser Art sollten also von der Schuldenbremse ausgenommen werden.

Sehen Sie Sparpotenzial im Bundeshaushalt, um der finanzpolitischen Lage wieder Herr zu werden?

Bei den Summen, um die es geht, sehe ich das nicht mal ansatzweise. Ich halte es für eine abenteuerliche Vorstellung, zu glauben, man könne die notwendigen Spielräume für den nachhaltigen Umbau der Wirtschaft aus dem Bundeshaushalt generieren. Dieser Umbau wird nur gelingen, wenn es dazu gesonderte Finanzierungswege gibt. Auf Dauer tragfähig wäre eine Reform der Schuldenbremse, die Investitionen möglich macht. Oder eben die Schaffung von Sondervermögen, wie wir es für die Bundeswehr gesehen haben. Für beides ist eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag nötig. Und da sehe ich FDP und CDU/CSU klar in der Verantwortung. Wenn das alles nicht stattfindet, fürchte ich, wird es den Umbau in der Wirtschaft nicht im erforderlichen Maße geben. Und damit geraten in erheblichem Umfang Arbeitsplätze in Gefahr.

Auch die Länder fürchten wegen des BVG-Urteils finanzielle Konsequenzen. Dennoch fordert Verdi in der Tarifrunde für den öffentlichen Dienst der Länder 10,5 Prozent mehr Gehalt auf zwölf Monate, mindestens aber 500 Euro. Ist das verantwortungsvoll?

Selbst wenn die 10,5 Prozent voll erfüllt werden, wird damit nicht der Kaufkraftverlust ausgeglichen, der sich in den vergangenen drei Jahren aufgebaut hat. Wir haben mit Bund und Kommunen einen Tarifabschluss, der bei einer Laufzeit von 24 Monaten im Schnitt eine Erhöhung von 11,5 Prozent vorsieht. Weshalb sollten die Beschäftigten der Länder schlechter abschneiden? Zumal die durchschnittliche Finanzlage der Kommunen deutlich angespannter ist als die der Länder. Wenn der öffentliche Dienst personell nicht ausbluten will, sind konkurrenzfähige Gehälter notwendig. Wir haben heute schon rund 300000 unbesetzte Stellen. Außerdem stehen wir vor einem riesigen Generationswechsel. In manchen Bereichen – wie zum Beispiel in der sozialen Arbeit, die nah an den Menschen ist – sind ein Viertel der Stellen nicht besetzt, weil es nicht genügend Bewerberinnen und Bewerber gibt. Deshalb muss der öffentliche Dienst mit der allgemeinen Einkommensentwicklung mithalten.

Was passiert, wenn das nicht geschieht?

In Teilen schwächt dieser Personalmangel das Staatswesen so sehr, dass das System zumindest teilweise in sich zusammenbricht. Mancherorts gibt es eine totale Überforderung der Mitarbeitenden, beispielsweise in den Ausländerbehörden großer Städte. Da liegen Abertausende unbearbeiteter Fälle. Ein weiterer Flaschenhals sind die Wohngeldstellen. Davon sind viele Bürger unmittelbar betroffen. In vielen Kitas der Ballungsräume sind die Personalstände katastrophal, das zieht sich weiter in den gesamten Bildungsbereich. Da, wo die Handlungsfähigkeit des Staates wegen Personalmangels erodiert und die öffentliche Daseinsvorsorge nicht mehr funktioniert, entstehen Räume für Populisten, die antistaatlich und mit demokratiefeindlichen Parolen unterwegs sind.