Seit 2020 hat Karlsruhe viele große und kleine Fragen zum Dieselskandal geklärt. Aber ein Urteil aus Luxemburg stellt alles infrage. Haben jetzt viel mehr Leute Anspruch auf Schadenersatz?
Fragen & AntwortenBGH überdenkt eigene Leitlinien – Möglicher Durchbruch für Diesel-Kläger?
Schadenersatz für Diesel-Kläger - dazu schien eigentlich so gut wie alles gesagt. Aber plötzlich ist wieder vieles offen. Denn der Europäische Gerichtshof (EuGH) verfolgt eine wesentlich käuferfreundlichere Linie als der Bundesgerichtshof (BGH) bislang. Schwenken die Karlsruher Richter darauf ein? Und wer könnte profitieren? Erste Hinweise gab es bei einem mit Spannung erwarteten Verhandlungstermin am Montag.
Wie ist die Ausgangslage?
Der BGH hat Hunderttausenden Betroffenen des VW-Abgasskandals den Weg zu Schadenersatz geebnet. Aber seit seinem ersten und wichtigsten Urteil aus dem Mai 2020 gilt der Grundsatz: Ansprüche hat nur, wer vom Autobauer über den Schadstoffausstoß auf sittenwidrige Weise getäuscht wurde. Beim VW-Skandalmotor EA189 war das der Fall. Denn hier wurde eine Betrugssoftware so programmiert, dass die Autos in Behördentests in einen speziellen Modus wechselten - und dann weniger giftige Abgase freisetzten als tatsächlich im Straßenverkehr.
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Welche Kläger haben es bisher schwer?
In vielen weiteren Diesel-Fahrzeugen auch anderer Autobauer arbeitet die Abgasreinigung ebenfalls nicht durchgängig gleich gut. Ein Beispiel ist die Drosselung je nach Außentemperatur. Kritiker werfen den Herstellern vor, die dafür verantwortlichen Funktionalitäten so ausgestaltet zu haben, dass die Autos die Grenzwerte vor allem unter den Bedingungen einhalten, die in der typischen Testsituation herrschen. Es handele sich also auch dabei um unzulässige Abschalteinrichtungen. Der BGH sah bisher aber keine Grundlage für Schadenersatz, solange kein Schummel-Modus aktiviert wird - denn technisch läuft dann ja prinzipiell alles immer gleich ab.
Chancen auf Schadenersatz für Diesel-Fahrer gestiegen
Was hat der EuGH damit zu tun?
Die Luxemburger Richter haben die Hürden in einem Mercedes-Fall aus Deutschland kürzlich deutlich niedriger angesetzt. Schadenersatz-Ansprüche könnten demnach schon bei einfacher Fahrlässigkeit entstehen. Zur Begründung heißt es in dem Urteil vom 21. März: Der Hersteller sichere jedem einzelnen Kunden beim Kauf zu, dass sein neues Auto allen EU-Vorgaben entspricht. Bei einem Auto mit unzulässiger Abschalteinrichtung werde diese Zusage aber nicht eingelöst. Entsteht dem Käufer durch so eine Abschalteinrichtung ein Schaden, hat er daher laut EuGH Anspruch auf „angemessenen Ersatz“.
Was bedeutet das für Diesel-Fahrer?
Ihre Chancen auf Schadenersatz dürften erst einmal gestiegen sein - immer vorausgesetzt natürlich, in dem Auto steckt überhaupt eine unzulässige Abschalteinrichtung. Ob es sich lohnt, vor Gericht zu ziehen, ist aber noch unklar. Die Vorgaben aus Luxemburg müssen in Deutschland zwar umgesetzt werden. Dabei hat der BGH aber einen gewissen Spielraum. Noch weiß niemand, wohin die Reise genau geht.
Welche Fragen dürften für ein Urteil eine Rolle Spielen?
Schadenersatz kommt schon nach dem EuGH-Urteil nur infrage, wenn es überhaupt einen Schaden gibt - eine zentrale Frage dürfte daher sein, worin dieser bestehen könnte. Bestimmte Funktionalitäten wurden nachträglich vom Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) beanstandet, für andere liegt bis heute eine behördliche Freigabe vor. Trifft die Hersteller unter diesen Umständen eine Schuld? Und wenn Kunden Schadenersatz zusteht: Wie ist dieser zu berechnen? Selbst sittenwidrig getäuschte VW-Diesel-Käufer müssen sich bei der Rückabwicklung auf den ursprünglichen Kaufpreis die gefahrenen Kilometer anrechnen lassen. Wenn man Pech hat, bleibt am Ende also kaum etwas übrig.
Unterschied zwischen „kleinem“ und „großem“ Schadenersatz
Was ließ der Senat dazu erkennen?
Intensiv wurde darüber diskutiert, ob Klägern eine komplette Rückabwicklung des Vertrags zustehen könnte - ein sogenannter großer Schadenersatz - oder doch zumindest eine Art „kleiner Schadenersatz“. Dieser Haltung schien der „Dieselsenat“ zuzuneigen. Käufer könnten den Kauf dann nicht einfach rückabwickeln. Sie könnten aber Anspruch auf den sogenannten Minderwert haben: Also die Differenz zwischen einem funktionsfähigen Auto ohne eine möglicherweise unzulässige Abschalteinrichtung und dem unwissentlich tatsächlich erhaltenen Auto mit der Abschalteinrichtung.
Ließ sich überhaupt alles an einem Tag klären?
Die Anwälte der Kläger und der Autobauer diskutierten fast fünf Stunden über Schadensfragen, Schutzansprüche der Käufer und Auslegungen beziehungsweise Auswirkungen des EuGH-Urteils auf deutsches Recht. Die Sache wird noch zusätzlich dadurch verkompliziert, dass es ja viele verschiedene Fahrzeugtypen und Ausstattungen gibt. Ein sogenanntes Thermofenster, bei dem die Abgasreinigung je nach Außentemperatur mal voll läuft, mal gedrosselt wird, ist beispielsweise bei Diesel-Motoren absolut gängig. Die Temperaturfenster sind je nach Hersteller und Auto aber unterschiedlich ausgestaltet - ein Thermofenster könnte also zulässig sein, das andere nicht. Dazu äußerte sich der BGH am Montag so gut wie gar nicht. Zur Verhandlung hat der BGH-„Dieselsenat“ einen VW-, einen Audi- und einen Mercedes-Fall ausgewählt. Ein Auto war von einem Rückruf des KBA betroffen, die anderen beiden nicht.
Wann kommt das Urteil?
Nach stundenlanger Verhandlung wurde ein Urteil in allen drei Fällen auf den 26. Juni terminiert. Kläger, die auf Schadenersatz hoffen, müssen sich also noch ein wenig gedulden. (dpa)