80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs sucht eine Bundesbehörde weiter nach Menschen,die im Namen des nationalsozialistischen Regimes Straftaten begangen haben. Mit dem Ziel, sie vor Gericht zu stellen. Es ist ein Wettlauf mit dem Tod.
Die letzten Nazi-Verbrecher„Es sind zu viele nicht bestraft worden“

Ort des Grauens und der Schuld: das Konzentrationslager Auschwitz
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Thomas Will zieht eine der zahllosen Schubladen auf. Ein Meer kleiner gelber Kärtchen kommt zum Vorschein, auf jedem ein Name. Der Oberstaatsanwalt holt ein Kärtchen hervor: „Gröning, Oskar“. Es ist ein Name von Hunderttausenden, die sich in der Namenskartei der Behörde finden, die Thomas Will leitet: die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen.
Medien sprechen oft von den „Nazi-Jägern aus Ludwigsburg“, das klingt griffiger als der offizielle Name, der kaum auf eine Visitenkarte passt. Will mag die Umschreibung nicht. Und sie stimmt ja auch nur bedingt: Er und seine Mitarbeiter jagen nicht, sie verfolgen Straftäter. Das ist ihr rechtsstaatlicher Auftrag. Das ist 80 Jahre nach Kriegsende vor allem Archivarbeit.

Thomas Will, Oberstaatsanwalt und Leiter der Zentralen Stelle zur Aufklärung von nationalsozialistischen Verbrechen
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Einer dieser Straftäter war jener SS-Mann Oskar Gröning, dessen Karteikarte der Behördenchef in Händen hält. Gröning arbeitete in der Verwaltung des Vernichtungslagers Auschwitz, in dem die Nazis Millionen Menschen töteten. Erst spät musste sich Gröning vor einem deutschen Gericht verantworten: 2015 wurde er wegen Beihilfe im Mord in 300.000 Fällen zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Er trat sie nie an. Gröning starb im Alter von 96 Jahren.
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Genau das wird zum Problem für Will: Die letzten noch lebenden Nazi-Verbrecher sind mittlerweile um die 100 Jahre alt. Dem Oberstaatsanwalt läuft die Zeit davon bei seiner Suche nach den hochbetagten Straftätern, wie er im Interview erzählt.
Herr Will, das Kriegsende jährt sich dieses Jahr zum 80. Mal. Mögliche Täter der NS-Zeit sind um die 100 Jahre alt, sofern sie noch leben. Wie lange wird es Ihre Behörde noch geben?
Wir finden immer noch Verdächtige. Aber richtig ist: Wir fahren auf Sicht, wir sind im Schlussbereich der NS-Verfolgung angekommen. Die jüngsten möglichen Täter sind heute 97 Jahre alt, wenn sie im letzten Kriegsjahr 1945 als 17-Jährige Teil des Systems geworden sind. Der älteste Verurteilte, den wir zuvor aufgespürt haben, war bei seiner Verurteilung 101 Jahre alt. Kurzum: Wir reden realistischerweise von nur noch wenigen Jahren. Aber ein konkreter Zeitpunkt ist noch nicht festgelegt.
Sie beschränken sich auf sogenannte Vorermittlungen, deren Ergebnisse Sie an Staatsanwaltschaften abgeben. Wie viele Vorermittlungsverfahren führen Sie derzeit?
Derzeit haben wir kein Vorermittlungsverfahren. Das kann sich aber schnell ändern. Das Deutsche Reich und die besetzten Länder waren durchzogen von einem Netz an Konzentrationslagern. Überall dort waren mögliche Täter oder Gehilfen im Einsatz, alleine in Auschwitz viele Tausende. Zu jedem Lager gibt es eine gewisse Anzahl an Personen, die wir noch nicht gefunden haben.
Und die Sie noch finden wollen? Oder ist das Vorhaben aussichtslos?
Zu manchen haben wir nur den Nachnamen, vielleicht noch den Vornamen. Da wird es schwierig, diese zu identifizieren. Aber für jedes Lager haben wir eine gewisse Anzahl an vollständigen Datensätzen über Leute, die noch leben könnten. Sollten wir sie noch finden, dann sind wir jedenfalls theoretisch, wenn auch in dieser Höhe unwahrscheinlich, schnell bei dutzenden von weiteren Verfahren.
Was sind das für Menschen, die Sie noch aufspüren könnten?
Realistischerweise keine NS-Führungskräfte, weil die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verstorben sind. Wir sprechen da von Wachleuten oder Verwaltungspersonal, auf die es Jahrzehnte lang keinen Fahndungsdruck gab. Die Rechtsprechung hat sich da in den vergangenen Jahren gewandelt. Man muss nicht mehr aktiv Menschen in einem Lager ermordet haben, um sich strafbar gemacht zu haben. Wer als Wächter oder Verwaltungskraft tätig war, hat durch die allgemeine Dienstausübung seinen Anteil an der Mordmaschinerie geleistet und sich damit bei Kenntnis dessen, was geschah, als Mordgehilfe strafbar gemacht.
Das bekam Irmgard F. zu spüren, die als junge Frau als Sekretärin im KZ Stutthof gearbeitet hat und mit 97 Jahren zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde.
Der Bundesgerichtshof hat das Urteil mittlerweile bestätigt und damit auch die Einschätzung der Rolle von Verwaltungskräften in Konzentrationslagern: Diese können sich der Beihilfe zum Mord schuldig gemacht, ohne direkt getötet zu haben.
Ihre Arbeit begleitet fortlaufend die Kritik, dass Sie Greise am Ende ihres Lebens belangen würden, verbunden mit der Frage: Was soll das noch?
Auf der rein moralischen Ebene könnte man sicherlich so argumentieren. Rechtlich ist es so: Wir haben gar kein Ermessen, wir müssen Tatverdächtige verfolgen. Und es gibt ein Korrektiv: Es wird geprüft, ob Angeklagte überhaupt verhandlungsfähig sind. Und wenn es das Alter nicht zulässt, findet kein Prozess statt. Alles andere wären ja auch Schauprozesse.
Was treibt Sie persönlich an?
Die eine Antriebsfeder gibt und gab es nicht. Als ich nach Ludwigsburg gekommen bin, war sicherlich eine Motivation, die Taten und das System besser zu verstehen. Heute muss ich sagen, dass mir das bislang nur annäherungsweise gelungen ist. Wir reden über ein Meer von Taten. Es ist richtig, dass diese Ermittlungen geführt werden. Wir jagen keine Nazis, auch keine Nazi-Greise. Wir verfolgen Straftäter. Dabei bleibt es für mich persönlich unbefriedigend, dass zehntausende Wachleute in Konzentrationslagern im Einsatz waren, aber nur ein Bruchteil tatsächlich verurteilt worden ist. Es sind zu viele nicht bestraft worden oder mit zu geringen Strafen davongekommen.
Ist es auch die späte Gerechtigkeit für die Opfer?
Streng juristisch betrachtet, steht das nicht im Vordergrund. Es geht um die Bestrafung von Tätern und ihren Helfern. Aber ja, natürlich spielt das eine Rolle. Vor einigen Jahren habe ich in Italien zu Kriegsverbrechen recherchiert. Da kam eine ältere Frau auf mich zu, die mir berichtete, wie sie ein Massaker deutscher Soldaten überlebte: Sie hatte unter den Leichen ihrer Angehörigen überlebt und dort stundenlang ausgeharrt. Da wird das, was so abstrakt in unseren Akten steht, plötzlich persönlich. Wenn Sie lesen: Es wurden 5000 Leute erschossen, bleibt es anonym. Wenn dann eine Überlebende vor Ihnen steht…
Was wird aus Ihrer Arbeit in Form der Akten, wenn die Zentrale Stelle geschlossen werden wird?
Wir haben etwa 850 Meter Akten gesammelt. Die haben einen enormen gesamtgesellschaftlichen Wert: Sie bilden die Dimension der Verbrechen ab, aber auch den Umgang der Gesellschaft in der Nachkriegszeit mit den Verbrechen. Wie es damit weitergeht, muss die Politik entscheiden. Entsprechende Überlegungen zu einer Nachfolgeinstitution, als ein Ort der Erinnerung, Mahnung, Forschung, Bildung und Begegnung laufen bereits.
Oberstaatsanwalt Will schließt die Schublade mit der Karteikarte von Oskar Gröning wieder. Mehr als 700.000 Namen befinden sich insgesamt in den Schränken. Darunter auch Opfer, aber vor allem mutmaßliche Täter in Konzentrationslagern. Die meisten mussten sich juristisch nie verantworten.
Zuletzt gab es noch zwei Anklagen in Deutschland gegen mutmaßliche NS-Verbrecher an Gerichten:
In Hessen ist ein Mann angeschuldigt, Beihilfe zum Mord in 3322 Fällen im Konzentrationslager Sachsenhausen geleistet zu haben. Das Landgericht Hanau erklärte den Senior auf Basis eines Gutachtens für nicht verhandlungsfähig. Das Oberlandesgericht Frankfurt verwarf die Nichtzulassung und forderte Nachprüfungen. Diese dauern an. Es sei „nicht ganz kurzfristig“ mit einer Entscheidung zu rechnen, teilte ein Justizsprecher der unserer Redaktion mit.
In einem weiteren Fall in Berlin gegen einen früheren Wächter eines Strafgefangenenlagers kommt es definitiv zu keinem Prozess mehr. Der Mann sei Ende vergangenen Jahres gestorben und das Verfahren eingestellt worden, teilte die Generalstaatsanwaltschaft Berlin mit. Dem Mann war Beihilfe zum Mord in 809 Fällen vorgeworfen worden.