Lindlar – An die Kurverei auf dem Betriebshof der Stadt Essen erinnert sich Andreas Menschik noch ganz genau. Ende der Siebzigerjahre hat Vater Peter die Kommune im Kohlenpott mit Wahlurnen ausgerüstet und dabei mit einem neuen umweltfreundlichen Kleber experimentiert, der Boden und Seitenwände zusammenhalten soll.
Das Gewicht der ersten Einwürfe lässt den Grund allerdings ungerührt vor die Füße des Wahlvorstandes krachen. Andreas Menschik, gerade volljährig geworden, verflucht das Streben des Vaters nach sauberem Klebstoff, während er mit einem kleinen Lastwagen voller Ersatz auf dem Betriebshof rangiert. Die Essener Stadtoberen verfolgen das Parkmanöver bereits mit strengem Blick.
Produkt mit Historie
Wenn die Deutschen am 26. September ein neues Parlament wählen, werden die grauen Werkstücke made in Lindlar wieder zum unbeachteten aber überall präsenten Mittelpunkt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird es eine Menschik-Urne sein, in der die Kanzlerkandidaten im Blitzlichtgewitter ihre Stimmzettel versenken. Nordfriesische Halligbewohner werden die bergischen Boxen genauso ansteuern wie die Schickimicki-Szene am Starnberger See.
„Wir haben kein Produkt im Sortiment, das eine vergleichbare Historie hat“, erklärt Andreas Menschik. Seit fast einem halben Jahrhundert ist kaum eine öffentliche Wahl in Deutschland ohne die Kunststoffbehälter aus der Produktion seiner Familie gelaufen. Die Mehrheiten etlicher Landtage, des Bundestags und des Europa-Parlaments wurden mehrfach in ihnen entschieden, aber auch bei kleinsten Kommunalwahlen oder Bürgerbegehren werden die Urnen aufgestellt. Für Menschiks Auftragsbücher gilt seit Jahrzehnten: je öfter gewählt wird, desto besser.
Herstellung vergleichsweise simpel
1961 gründet Peter Menschik den Kunststoffbetrieb in einem Moitzfelder Hinterhof. Sechs Jahre später baut er die erste Produktionshalle am alten Lindlarer Sägewerk. Anfang der Siebzigerjahre fallen ihm beim eigenen Urnengang im Rheinisch-Bergischen die Holzkisten auf, die man offenbar kurz vor dem Wahltag notdürftig zusammengezimmert hat. „Das kann man schöner machen“, erinnert sich Andreas Menschik, heutiger Geschäftsführer, an die Worte des Vaters.
Der Prototyp aus Kunststoff spricht sich erst im Bergischen, dann im Land und schließlich bundesweit bis nach Österreich, in die Schweiz und die Benelux-Länder herum. Seine Herstellung ist vergleichsweise simpel: Seitenwände und Boden sind aus schlagfestem und recycelbarem Polystyrol. Sie werden gekantet, gebohrt und – nach der Bruchlandung des Vaters – inzwischen mit einem ökologischen aber dennoch haftenden Kleber fixiert. Den Deckel bringt das sogenannte Tiefziehverfahren in Form. Die Urnenhöhen variieren zwischen 35 und 110 Zentimetern Höhe, letzteres Modell ist aus Gewichtsgründen zudem mit Rollen ausgestattet. Das Highend-Modell besitzt sogar eine schiebbare Blende über dem Einwurfschlitz.
Urnen für die Wirtschaft
Viel hat sich beim Design seit damals nicht getan – was nicht an Menschik liegt. „Die Wahlordnungen lassen so gut wie keinen Spielraum zu“, weiß der Geschäftsführer, der im Hauptzweig knallbunte Verkleidungen für Baumaschinen, die Medizin- und Sicherheitstechnik produziert. Die Urne für eine staatliche Wahl läuft jedoch weiter in grauem Farbton vom Band. Schwarz, Grün, Rot oder Gelb, so fürchten die Wahlleiter, könnten die Wähler optisch im Sinne einer Partei beeinflussen. Ganz anders sieht es bei Aufträgen aus der Wirtschaft aus. Der Edeka-Betriebsrat sammelt seine Stimmen in tiefblauen Urnen, der von Volkswagen besteht auf spezielle Aufkleber und die Baumarkt-Kollegen von Obi votieren traditionell an Boxen in einem kräftigen Orange.
Die wichtigste Änderung gab es einmal nach einer Beschwerde aus Bayern. Dort standen derart viele Bewerber auf dem Stimmzettel, dass das Papier beim besten Willen nicht durch den Schlitz passte, der daraufhin leicht verbreitert wurde. In jüngster Zeit sei zudem die konische Form gefragt, bei der mehrere Exemplare platzsparend zusammengesteckt werden können, so Menschik.
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Daniel Goldstraß und Friederike Bredohl aus dem Vertriebsteam erwarten jedenfalls „spannende Tage“ bis zum Wahlsonntag. Die beiden Wipperfürther haben gerade einen Großauftrag für die Stadt Stuttgart auf den Weg geschickt. Jährlich verlässt eine fünfstellige Zahl an Urnen das Lindlarer Werk. „Manche Kommunen bestellen sehr frühzeitig, aber anderen fällt erst wenige Tage vor der Wahl auf, dass es ja an Urnen fehlt“, verrät Bredohl. Dann wird es hektisch, dann müssen die Expressboten ran.
Über den Grund, warum deutsche Gemeinden und Städte überhaupt laufend neue Urnen brauchen und die einmal erworbenen Exemplare nicht über Generationen halten, können die Vertriebler nur spekulieren. Offenbar werden die Urnen verbreitet nicht pfleglich behandelt und eingelagert.
2500 Artikel hat das Lindlarer Unternehmen inzwischen im Sortiment – die Wahlurnen und Tischwahlkabinen sind da ein absolutes Nischenprodukt. Trotzdem läuft am Lindlarer Sägewerk die Produktion seit Wochen unter Volldampf. Claudia Kumm, Inge Wolff und Evelin Lorenz mischen gerade den Kleber für die nächsten Urnen an und entfernen den Grat. Eine Halle weiter nieten die Kollegen eine Wahlkabine zusammen. „Irgendwo wird ja immer jemand gewählt“, lacht Dieter Biehler.
Tatsächlich würde die Umstellung auf die elektronische Stimmabgabe nach fast 50 Jahren wohl das Aus für die Wahlurnen bedeuten, das weiß Andreas Menschik. Doch so weit ist es noch nicht. „Die Furcht vor Hackern und Manipulation spielt uns momentan noch in die Hände“, sagt der Overather mit einem Schmunzeln.