Hohe Migrationsquote, Armut, Kriminalität: Duisburg-Marxloh ist als No-Go-Area bekannt. Doch der Eindruck täuscht, wie ein Ortsbesuch im viel geschmähten Stadtteil zeigt.
Zwischen Armut und AufbruchWie es sich in Duisburg-Marxloh wirklich lebt
Marxloh, der Krisenherd. Fernsehdokumentationen und Nachrichten greifen diesen Ruf auf, den der Stadtteil weit vor den Toren der Duisburger Innenstadt hat. Filmteams fahren mit der Polizei nachts zu Einsätzen und sprechen mit Menschen, die wegziehen wollen, weil sie den Dreck nicht mehr ertragen können. Youtube-Videos über den Stadtteil werden mit Schlagworten wie „Ghetto“ und „Brennpunkt“ reißerisch betitelt.
Bei Dokumentationen dieser Art wird Claus Werner Lindner ungehalten. Der SPD-Lokalpolitiker lebt wie 20000 weitere Menschen in Marxloh und hat sich nicht nur mit dem Durcheinander in seinem Stadtteil angefreundet, sondern profitiert von eben jenem: „Für die Leute, die hier leben, ist es kein Problem.“ Die Einwohner haben sich in Marxloh zusammengerauft, betont Lindner. Wenn der große Mann durch die Straßen schlendert, wird er gegrüßt und bleibt immer wieder für eine kurze Unterhaltung stehen; man kennt sich.
Marxloh: Ein Stadtteil mit großer Zukunft?
Der Lokalpolitiker ist es auch, der engagierte Pläne in Marxloh voranschiebt: Der Stadtteil habe eine große Zukunft vor sich, wenn ein neues Konzept verfolgt werde, glaubt Lindner. Er sieht in seiner Heimat einen Ankunftstadtteil – einen Ort, an dem Menschen aus aller Welt einwandern und sich hier auf das Leben in Deutschland einstellen. „Grundsätzlich läuft es in den Ankunft-stadtteilen immer gleich ab. Menschen wandern ein, ziehen an einen solchen Ort, dann lernen sie den Clanchef kennen, der sie zu Verbrechen animiert“, zeigt der Politiker auf. „Aber irgendwann arbeitet sich die Person heraus.“
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Seit 1872 wird Marxloh von Zuwanderern geprägt. Nach Kohlefunden im Ruhrgebiet zogen viele Menschen wegen der neu entstandenen Arbeitsplätze zu. Inzwischen treffen mehr als 90 verschiedene Kulturen auf kleinstem Raum aufeinander.
Vor einigen Jahren sitzt Lindner am Hotelpool, als er ein Buch aufschlägt: „Arrival City“ von Doug Saunders. Der Journalist hat Stadtteile, deren Struktur sich durch Zuwanderung verändert hat, in den Blick genommen. Dabei hat er festgestellt, dass sie alle nach den gleichen Mustern verfahren: Einen sogenannten Ankunftstadtteil machen unter anderem eigene Regeln abseits der Gesetze und das Netzwerk aus Einwanderern und alteingesessenen Einwohnern aus. Die Urlaubslektüre brachte den Stein ins Rollen: „Ich habe das Buch dann direkt weitergegeben und mit einigen Leute in einer Art Guerilla-Gruppe zusammen überprüft, ob Marxloh ein solcher Ankunftstadtteil sein kann“, sagt Lindner.
Gefördert wird am echten Bedarf vorbei
Wenn der Lokalpolitiker erzählt, wie nach der Lektüre plötzlich alles Sinn ergeben habe, kann er nur noch mit dem Kopf schütteln: „Die inzwischen über 120 Millionen Fördergelder, die in den vergangenen Jahrzehnten in den Stadtteil geflossen sind, waren auf kurzfristige Lösungen ausgelegt, die völlig an dem Bedarf vorbeigehen.“
Eine der Strategien sei es gewesen es, Geflüchtete im Fußball zu fördern. So wurden auch in Marxloh Bolzplätze und Stadien renoviert und fit gemacht – mit einem Denkfehler: „Das ist gar nicht der Nationalsport in Syrien, sondern Ringen. Das Konzept war zum Scheitern verurteilt, kein Syrer hat Fußball gespielt.“ So läuft es oft in Marxloh: Fördergelder werden für Projekte beantragt, die nach deutschen Maßstäben Sinn ergeben. Nach fünf Jahren laufen die Fördermittel aus – und die Resultate verpuffen.
Genau das wollen Stadt, Land und Bund jetzt ändern – und investieren. Diesmal sollen 50 Millionen Euro Fördergelder genau da ankommen, wo sie gebraucht werden: in dem Ankunft-stadtteil und dem ganzen Bezirk Hamborn. Mit dem Geld will die Stadt ein flexibles und schnelleres System der Arbeitsvermittlung etablieren, um Menschen legal zu beschäftigen. Dafür sollen berufliche Qualifikationen einfacher erreicht werden können. Das Verkehrsnetz soll sich verbessern und der August-Bebel-Platz im Ortskern umgestaltet werden. Gerade so viel, dass der Stadtteil nicht durch Gentrifizierung ins Wanken gerät.
Wer im Kern Marxlohs, auf dem sogenannten Pollmann-Kreuz, steht, entdeckt oberhalb der Schaufenster recht baufällige Fassaden. Auch hier soll mit den Geldern renoviert werden; zehn Millionen Euro kommen aus dem Haushalt der Stadt, 15 Millionen vom Land und 25 Millionen vom Staat. Marxloh soll hochwertiger werden – und schon jetzt glitzern die Leuchtanzeigen der Brautgeschäfte über den Förderbedarf hinweg.
Marxloh: Eine Meile mit Brautläden und Schmuck
An der Hauptstraße Marxlohs, der Weseler Straße, befindet sich die längste Brautmoden-Meile Deutschlands. Über 110 Brautgeschäfte reihen sich hintereinander – Hamburg kommt auf etwa 65 Läden, München auf 55. Am Wochenende kommen Menschen aus ganz Europa, sie kaufen auch im Anzuggeschäft Milano von Cobanoglu Kajin. 2013 eröffnete der Laden, 2017 übernahm Kajin das Geschäft von seinem Vater, der auf der anderen Straßenseite ein Brautmodengeschäft betreibt.
Der 23-Jährige produziert inzwischen sogar in Deutschland; die Branche profitiere von der Inflation, sagt Kajin. Einen maßangefertigten Anzug gibt es bei ihm ab etwa 250 Euro: „Die Kunden schätzen das und fliegen dafür sogar ein. Neulich war ein Kunde aus Schweden hier, auch aus Kopenhagen, London und Paris kommen Kunden her. Die Vorurteile über Marxloh bestätigen sich für Kajin nicht, und seine Kunden scheinen sie nicht zu interessieren.
Nicht nur Textilien gehen in Marxloh über den Warentisch, auch das entsprechende Brautgold, der auffällige Hochzeitsschmuck türkischer Frauen, wird angeboten. Schätzungen nach lagert Gold im Wert von etwa 200 Millionen Euro in den Juweliergeschäften des Stadtteils, sagt SPD-Politiker Lindner. In Marxloh lässt sich Geld verdienen
Doch so steil die Karrieremöglichkeiten in Marxloh zu sein scheinen, so extrem sind auch die Ausprägungen von Kriminalität und Armut. „Organisierte Kriminalität existiert, vor allem der Handel mit Drogen ist ein Problem“, erklärt Lindner. Kürzlich habe es wieder Fälle von Sozialbetrug durch Menschen aus Rumänien gegeben; Schleuser bringen Kinder nach Deutschland, für die sie Sozialgelder beziehen. Ein Jahr lang werden die Gelder ausgezahlt, erst danach muss ein neuer Antrag gestellt werden. Dann sind die Kinder längst wieder in der Heimat, während sich die Schleuser das Jahr über die Taschen mit dem Kindergeld füllen.
Marxloh und das Problem mit dem Müll
Genauso habe Marxloh ein Müllproblem, 60 illegale Müllkippen verbergen sich zwischen den Häuserschluchten.
Diese Muster zu durchbrechen, ist für die Polizei vor Ort nicht einfach: „Hier braucht es den Stadtsheriff mit dem großen Herz, der seine Ohren spitzt“, glaubt Lindner. „Es gibt diesen gefährlichen Raum, auch die Großlagen haben zugenommen, das lässt sich nicht leugnen. Aber als Ankunftstadtteil müsste man schon vorher eingreifen.“
Wer die sogenannte Hochzeitsmeile weiter herunterläuft, stößt auf das Ende der glitzernden Geschäfte. Hier sehen die Häuser deutlich baufälliger aus, Menschen nehmen auf offener Straße Drogen und liegen in einem schmalen Parkstreifen auf dem Boden. Die Pole des Stadtteils klaffen auseinander.
Um die Straßenecke liegt der Petershof, das sozialpastorale Zentrum Marxlohs. Hier ist Pater Oliver im Einsatz, seine Aufgabe als katholischer Priester inmitten eines stark muslimisch geprägten Umfelds sei „in erster Linie die Sorge um den Menschen“, erklärt der Prämonstratenser. Mit Unterstützung von zwei Sozialarbeitern hilft der Pater bei Lebensfragen aller Art, nimmt sich im Auftrag des Bistums Essen Obdachlosen an, organisiert Ausbildungen, stellt Duschmöglichkeiten zur Verfügung.
Einer seiner Schützlinge ist Halil Ta. Der 26-Jährige hat eine kaufmännische Ausbildung absolviert und sich selbstständig gemacht – mit einem Imbisswagen, den er stolz zeigt. Bis Mitternacht hat sein Wagen geöffnet, in dem er seine Spezialität, Hähnchen- und Adanaspieße, anbietet. Auch für Veranstaltungen bietet er Catering an. Viel Arbeit, doch das sieht Halil Ta entspannt: „Ich habe einen guten Schlaf. Und irgendwas muss man ja machen.“ Schließlich will er sich hocharbeiten – wie so viele in Marxloh.