„Fehlt mir mega doll“Wie Kinder besonders unter der Corona-Krise leiden
Hamburg – Wie sehr sie ihre Freunde vermisst? Freya Kaack ist 17, und vor Corona war sie jedes Wochenende unterwegs. Mit der Clique Musik hören, Bierpong spielen, tanzen gehen in Clubs und danach noch eine Pita essen. Lachen, albern sein, eine gute Zeit zusammen haben. „Man hat sich am Montag schon drauf gefreut, was man Freitag macht. Es war die Ausnahme, dass ich gesagt habe: Ich mach mal einen Tag Pause. Jetzt ist die ganze Zeit Pause.“ Wie sehr ihr das alles fehlt? „So sehr!“, sagt die Gymnasiastin. „Es fehlt mir mega mega doll.“
Mega doll, sagt Freya. Sehr schwierig, sagen Kinderärzte und Psychologen. Die Pandemie sei sehr schwierig für Kinder und Jugendliche, das zeigt sich immer mehr. Es gibt etwa die Copsy-Studie vom Uni-Klinikum Hamburg-Eppendorf, für die bereits im Frühsommer 2020 mehr als 1000 Elf- bis 17-Jährige befragt wurden. Das Ergebnis: Mehr als 70 Prozent von ihnen fühlten sich durch die Krise seelisch belastet, das Risiko für psychische Auffälligkeiten hatte sich fast verdoppelt. Die Befragten achteten weniger auf ihre Gesundheit und beklagten häufiger Streit in der Familie.
Lebensqualität und psychische Gesundheit verschlechtern sich
„Wir haben mit einer Verschlechterung des psychischen Wohlbefindens in der Krise gerechnet. Dass sie allerdings so deutlich ausfällt, hat auch uns überrascht“, sagte die Studienleiterin Ulrike Ravens-Sieberer. Jetzt wurden die Ergebnisse einer zweiten Befragungsrunde veröffentlicht – sie zeigten, dass sich Lebensqualität und psychische Gesundheit der Kinder weiter verschlechtert haben.
Da ist die Covid-Kids-Studie, für die 3000 Kinder und Jugendliche aus verschiedenen Ländern Auskunft gaben – und bei der die Deutschen eine um 42 Prozent geringere Lebenszufriedenheit zeigten als vor der Pandemie. „Das ist ein enormer Rückgang“, sagt der Erziehungswissenschaftler Sascha Neumann von der Uni Tübingen. „In der Regel ergeben sich bei Kindern und Jugendlichen sehr hohe Werte bei der Lebenszufriedenheit.“
Das Leider der Kinder unter der Lupe
Da sind die Statistiken der „Nummer gegen Kummer“, die einen Anstieg der Beratungsgespräche am Elterntelefon um 59 Prozent zwischen Januar und September verzeichnet. Da sind Ärzte, die warnen, dass Kinder mehr Wut und Impulsivität aufbauen, unter Ängsten, Albträumen und Depressivität leiden. Und da ist Prof. Dr. Michael Kölch, Präsident der deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, der all die Hiobsbotschaften wieder ein Stück weit einfangen möchte.
„Natürlich ist es eine belastende Situation für alle, besonders für die Kinder“, sagt der Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uniklinik Rostock. „Aber der Über-Alarmismus und die Dramatisierung stören uns. Damit verkennt man auch, was Kinder können und welche immense Leistung sie momentan vollbringen.“ Kölch betont, dass bisherige Studien lediglich epidemiologische Fragebögen erfassen. Eine subjektive Momentaufnahme.
Und was sagt diese Momentaufnahme? Dass irgendetwas gar nicht gut ist bei unseren Jüngsten, findet die Kinderärztin Tanja Brunnert. Das merkt sie schon daran, dass sie auf ihre Frage „Geht’s dir denn gut?“ immer häufiger ein niedergeschlagenes „Naja, wie es einem so geht im Moment“ erhält. „Es gibt viel Redebedarf. Die Lage ist sehr angespannt, die vielen Wochen des Lockdowns haben deutliche Spuren hinterlassen“, so Brunnert.
Ängste und versteckter Kummer
Die Ärztin berichtet von einer Fünftklässlerin, die ihr anvertraute, dass sie sich mit niemandem mehr trifft, um ihre kranke Mutter nicht anzustecken – und heimlich weint, um sie nicht zu belasten. Oder von dem fünfjährigen Mädchen, das sich bei seiner U-Untersuchung von der besten Seite zeigte. „Am Ende lief es dann auf mich zu, nahm mich ganz fest in den Arm und sagte: ,Frau Brunnert, du bist heute mein Sozialkontakt!‘ Ich musste lachen, aber gleichzeitig hätte ich auch weinen können.“
Zu den kleinen und großen Kümmernissen kommen handfeste Probleme: Die Sprache etwa. „Kinder, die aus einem anderen sprachlichen Umfeld kommen, brauchen dringend frühe Sozialkontakte, um Deutsch zu lernen, aber die fallen jetzt weg“, sagt die Ärztin. Oder Adipositas. „Die Zunahme von Gewicht ist ein Riesenproblem. Da reden wir von Vierjährigen, die während der Pandemie zehn Kilo draufgelegt haben.“
Mehr Bildschirmzeit, weniger Sport, jede Menge Stress im Homeschooling: Das kennt momentan wohl jede Familie. „Jedes Kind kompensiert die Situation anders und kommt unterschiedlich gut damit klar“, sagt Tanja Brunnert. „Eine klassische Reaktion ist aggressives Verhalten. Die Kinder kommen rasch an ihre Grenzen, der Ton ist rau geworden.“ So wie zu Hause bei Benni. Dem Elfjährigen, der eigentlich anders heißt, geht es im Moment nicht gut. Benni tut sich schwer mit dem Distanzunterricht: Er sitzt ewig an seinen Aufgaben, lässt sich immer wieder ablenken, wird nicht fertig.
Auch die Bewegung fehlt
Er erzählt, dass er viel lieber in die Schule gehen würde, dass sein Vater, der neben ihm im Homeoffice sitzt, oft telefoniert und ihn dann stört. „Man merkt, dass ihm Bewegung fehlt“, sagen seine Eltern. Normalerweise spielt er zwei Mal pro Woche Basketball, ist häufig draußen – doch statt in der Halle zu rennen, zielt er nun mit Sockenpaaren auf Eimer. Dann rastet Benni aus. Schreit, wirft mit Sachen, knallt Türen, schleudert seinen Eltern „Ihr hasst mich ja nur!“ entgegen. Diese Anfälle, sagt seine Mutter, hatte er vor Corona nicht. Benni sagt: „Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist.“ Inzwischen bekommt er Hilfe in einer Therapie.
Was Experten noch mehr Sorgen bereitet: Kinder, die sowieso schon Schwierigkeiten haben – weil sie verhaltensauffällig sind, lernbehindert, krank oder aus einem schwierigen Elternhaus kommen. Genau das sind auch jene, auf die Psychiater Michael Kölch das Augenmerk lenken möchte: „Bei Kindern, die hilfebedürftig sind, muss man unbedingt schauen, dass sie weiterhin Unterstützung, zum Beispiel in Form von Therapien, bekommen.
Das Virus verzögert den Start in die Selbstständigkeit
Der Rückzug in die eigenen vier Wände hat auch noch einen anderen Effekt: eine Stagnation in Reifeprozessen unseres Nachwuchses. Das Selbstständigwerden von Erstklässlern, die Loslösung von Eltern als Teenager, die Spiegelung durch Peer Groups – das alles fehlt momentan. Stattdessen: Praktikum abgesagt, Auslandsjahr abgebrochen, keine Partys, keine Flirts – zu Hause festgenagelt.
Ein Forschungsverbund hat für seine Studie JuCo junge Menschen zu ihren Erfahrungen während der Pandemie befragt. Der hervorstechendste Befund ist, wie einseitig diese derzeit betrachtet werden. „Wir Jugendlichen werden doch nur als Schüler gesehen. Wir sollen lernen und lernen und lernen. Warum wird darüber diskutiert, die Sommerferien zu kürzen? Politiker denken wie Kapitalisten“, so notierte es einer der Befragten.
Das könnte Sie auch interessieren:
Auf jeden Fall, da sind sich die Experten einig, müsse man sich überlegen, welche Bedürfnisse die Kinder und Jugendlichen selbst haben – jetzt und nach der Corona-Pandemie. Was wünschen sie sich, was brauchen sie? „Kinder gehören zu den Verlierern der Pandemie, durch alle Schichten durch“, sagt Tanja Brunnert.
Freya Kaack würde es schon reichen, ihre Freunde wiederzusehen. In dieser Woche wird sie volljährig, das hätte sie eigentlich mit ihrer besten Freundin zusammen feiern wollen. Die Party fällt aus, natürlich. Nachfeiern wird sie ihren 18. wohl nicht. Zum Feiern, sagt sie, finden sich wieder neue Gründe.