Lielischkies sieht Anzeichen dafür, dass Russland sich auf einen mehrjährigen Krieg einrichtet. Hoffnungen auf einen Umsturz hat er nicht.
Ein Jahr Ukraine-KriegMoskau-Kenner Lielischkies kritisiert in Brühl „Vollkasko-Reden“ des Kanzlers
Udo Lielischkies ist Russland-Kenner. Er hat jahrelang für die ARD aus Moskau berichtet und lebt nun mit seiner Frau und den beiden Töchtern in Brühl. Im Interview zieht er sein persönliches Resümee nach einem Jahr des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, bewertet die Rolle der Bundesregierung und wagt einen Ausblick darauf, wann und wodurch der Krieg beendet werden könnte.
Herr Lielischkies, wir haben vor einem Jahr nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine hier an derselben Stelle zusammengesessen. War Ihnen klar, dass der Krieg nach einem Jahr nicht vorüber sein würde?
Lielischkies: Ehrlich gesagt, nein. Wie viele andere habe ich nach dem Einmarsch in die Ukraine gedacht, die Überlegenheit russischer Truppen sei so groß, dass sie in relativ kurzer Zeit weite Teile der Ukraine einnehmen würden. Ich gebe zu, dass ich über den Kampfgeist der Ukrainer überrascht war.
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Wie lange wird dieser Krieg noch dauern?
Im Augenblick muss man davon ausgehen, dass er mindestens noch bis zum Herbst andauern wird. Vermutlich aber länger: Es gibt Anzeichen dafür, dass Moskau sich auf einen mehrjährigen Krieg einrichtet.
Was hat Sie mehr überrascht: die Wehrhaftigkeit der Ukrainer oder die in strategischer und technischer Hinsicht limitierte russische Armee?
Am meisten hat mich tatsächlich überrascht, wie von Korruption zerfressen, wie unfähig diese russische Armee sich in den ersten Monaten aufgestellt hat. Allein die naive Erwartung, russische Truppen würden von den Ukrainern als Befreier begrüßt werden, war ja wirklich absurd. Auch darum hatten die russischen Militärs ihre Logistik dramatisch vernachlässigt. Entsprechend hoch waren daher auch ihre Verluste. Allein auf russischer Seite muss man ja von mindestens 100 000 Toten und Schwerverletzten ausgehen, auf ukrainischer Seite sind die Verluste ebenfalls sehr hoch.
Wie bewerten Sie die veränderte Vorgehensweise Putins, zunehmend die Zivilbevölkerung unter Beschuss zu nehmen und Versorgungsstrukturen zu zerstören?
Putin verfügte zunächst über ein ausreichendes Arsenal teurer Lenkwaffen, mit denen er fast die gesamte Rüstungsindustrie der Ukraine ausschalten konnte. Als dennoch militärische Erfolge ausblieben, kam als zweiter Schritt hinzu, die gesamte zivile Infrastruktur ins Fadenkreuz zu nehmen – was sicherlich ein Kriegsverbrechen ist. Diese brutale Vorgehensweise kennen wir ja schon aus Tschetschenien und Syrien.
Daher ist es jetzt extrem wichtig, schnellstmöglich mehr moderne Luftabwehr zu liefern. Um so weniger verstehe ich, dass drei deutsche Patriot-Systeme nach Polen, aber nicht weiter über die Grenze in die Ukraine geliefert wurden. Aber in den vergangenen Monaten wurden ja viele erstaunliche Dinge im Kanzleramt entschieden.
Gehört dazu auch die Diskussion um Leopard-Panzer für die Ukraine? Hat Kanzler Scholz gezaudert oder gründlich abgewogen?
Das monatelange Verzögern hat bei mir eine Mischung aus Enttäuschung und Empörung ausgelöst. Scholz hat in einer historischen Situation komplett versagt: Unabhängig von den Leopard-Panzern gleicht die deutsche Politik einer „Salami-Taktik“. Ukrainer erhielten gerade genug Waffen, um militärisch zu überleben, aber zu wenig, um die Russen zumindest auf die Grenzen vom 24. Februar 2022 zurückzudrängen.
Wie erleben Sie Deutschlands Rolle?
Es wird ja nicht einmal ein Kriegsziel klar definiert. Was bedeutet denn das Mantra des Kanzlers, die Ukraine dürfe nicht verlieren und Russland nicht gewinnen? Selbst unsere Bündnispartner rätseln verzweifelt, was er will. Auch seinen Auftritt im Bundestag kürzlich nach der Leopard-Entscheidung empfand ich als peinlich-paternalistisch, nach dem Motto: „Ich sage euch nicht, was ich vorhabe, aber vertraut mir einfach. Ich werde klug mit den Partnern verhandeln, alles abwägen und dann das Richtige tun.“ Das ist kein Tonfall in einer aufgeklärten Demokratie. Ein Staatsoberhaupt muss die Richtung vorgeben, ein Ziel, und das auch seiner Bevölkerung nahebringen.
Der Rückhalt in der Bevölkerung für weitere Waffenlieferungen Deutschlands an die Ukraine bröckelt laut Umfragen.
Das ist wohl auch ein Reflex auf diese Haltung des Bundeskanzlers. Er ist kein Winston Churchill, der eine Blood, Sweat and Tears-Rede hält. Nein, Scholz hält Vollkasko-Reden. Er sagt sinngemäß: „Sobald es irgendwo weh tut, werden wir euch sofort helfen, keiner geht allein. Wenn das Benzin teurer wird, werden wir das abfedern. Und wenn die Heizung teurer wird, werden wir auch das abpuffern.“
Er will Schaden von der deutsche Bevölkerung abwenden.
Das ist in meinen Augen eine gefährliche Strategie, weil sie die Entschlossenheit, die Resilienz der Bevölkerung untergräbt, die wir so dringend brauchen: Notfalls müssen wir auch Einschränkungen hinnehmen, damit die Ukraine ein freies, europäisches Land bleibt. Der Sound des Kanzlers passt eher zu einer Mentalität des Wegduckens, die wir jetzt häufig hören – sinngemäß: „Das ist doch nicht unser Krieg. Wir wollen uns weiter der ruhigen Wohlstandsmehrung widmen.“
Diese Haltung ist nicht nur zynisch und amoralisch, sondern auch gefährlich: Hätte Putin Erfolg, würde er mit Sicherheit weitermachen, unsere Nachkriegsordnung wäre zerstört, das Signal an andere Aggressoren auf der Welt eindeutig.
Viele Menschen in Deutschland leiden unter den Folgen des Krieges und der Inflation.
Sicher, es sind schwierige Zeiten. Und vielleicht werden einige Wohnzimmer nicht so warm sein wie im vorherigen Winter. Aber man muss den Menschen doch klarmachen, dass es hier um ganz elementare geopolitische und sicherheitspolitische Dinge geht, und dass man dafür auch mal bereit sein muss, Opfer zu bringen. Und wer, wenn nicht der Kanzler, müsste diese Botschaft überzeugend vortragen? Womit ich nicht sagen will, dass man sozial schwache Gruppen sich selbst überlassen sollte.
Ist denn die Sorge, dass Putin Deutschland als Kriegspartei und als Kriegsgegner ausmacht, unbegründet?
Da gibt es verschiedene Betrachtungsweisen. Zum einen die völkerrechtliche. Die sagt klar, dass die Lieferung von Waffen ein Land nicht automatisch zur Kriegspartei macht.
Das interessiert Putin vermutlich herzlich wenig.
Genau! Wenn man ihm zuhört, sind wir schon lange Kriegspartei. Es ist eine völlig willkürliche Linie, die allein er definiert. Die hätte er auch schon bei der Lieferung von Schutzhelmen oder Schützenpanzern als überschritten erklären können. Dieser Mann handelt so, wie es ihm gerade beliebt.
Und er hat seine Kriegsziele immer klar formuliert.
Natürlich. Wenn er erfolgreich aus diesem Krieg hervorginge – und die offiziell annektierten Gebiete behielte, hat Europa ein riesig großes Sicherheitsproblem. Putin würde sich weiter eingraben, würde weiter nachrüsten und könnte Moldau oder Georgien angreifen. Er will, dass die NATO sich auf die Grenzen vor 1991 zurückzieht – was natürlich absurd ist.
Ist Putin denn so unumstritten, wie es den Anschein hat?
Nein, nein, nein! Das ist um ihn herum immer mehr eine Räuberhöhle in Aufruhr. Da ist Ewgenij Prigoschins sogenannte Wagner-Armee, Zehntausende Söldner, die jetzt mit Strafgefangenen aufgefüllt wurde. Und dann sind da die tschetschenischen Kämpfer von Ramsam Kadyrow, ebenfalls viele Tausend. Diese als Tik-Tok-Armee verspotteten Tschetschenen sind weniger in Gefechten erfolgreich als im Terror gegen die Zivilbevölkerung.
Die beiden Warlords Prigoschin und Kadyrow machen viel Lärm, kritisieren die Unfähigkeit der regulären Armee. Putin benutzt sie, um die Fraktion der Hardliner ruhig zu stellen. Kadyrow hat vor weniger Tagen zum Beispiel gefordert, das Gebiet der ehemaligen DDR ebenfalls zu erobern und zurück in den Schoß Russlands zu holen. So etwas gefällt den „Falken“.
Unterstützt die Bevölkerung in Russland Putins Krieg gegen die Ukraine?
Eine Mehrheit bisher schon, wenn man den Umfragen glaubt. Aber es ist differenziert: Fast niemand wagt, sich öffentlich gegen den Krieg auszusprechen. Vor allem die russischen Eliten würden diesen Krieg wohl lieber heute als morgen beenden, um ohne Sanktionen ihre lukrativen Geschäfte wieder aufzunehmen zu können. Überzeugte Kriegsgegner fliehen ins Ausland, dazu kommen Hunderttausende Männer, die der Einberufung entgehen wollen. Dieser Brain-Drain, der Verlust vor allem junger gebildeter Menschen, ist schon jetzt ein Riesenproblem für die russische Wirtschaft.
Kann es überhaupt einen Frieden mit Putin geben?
Zumindest einen Waffenstillstand kann ich mir vorstellen, aber erst dann, wenn er merkt, dass er nicht weiterkommt, dass die Verluste zu hoch und die Kosten zu groß sind. Das geschähe, wenn der Westen schneller mehr Waffen liefern würde. Noch aber spekuliert Putin darauf, dass die Geschlossenheit der westlichen Länder bröckelt, er ruft sein Volk zur Entscheidungsschlacht gegen den gesamten Westen auf. Mit mäßigem Erfolg allerdings, weil die Masse der russischen Bevölkerung unpolitisch und eher apathisch ist – so, wie Putin es bisher ja wollte.
Wie bewerten Sie Nachrichten darüber, dass Putin ernsthaft krank ist – oder dass andere an seinem Verstand und seiner Wahrnehmung zweifeln?
Putin ist eine Black Box. Der Kreis der Vertrauten mit Zugang zu ihm ist winzig, er schottet sich weitgehend ab. Es soll angeblich Doppelgänger geben, er hat zuletzt Auftritte abgesagt und Reisen verkürzt. Aber all das sind Spekulationen. Und was in seinem Kopf vorgeht? Er ist geprägt durch seine selbst geschaffene Allmacht – und diese Allmacht schafft natürlich eine gewisse Realitätsferne.
Für wie wahrscheinlich halten Sie einen Aufstand des Volkes oder eine Palastrevolte im Kreml?
Massenproteste wird es kaum geben, dafür sind Repression und Propaganda nach 23 Jahren Putin längst zu mächtig. Dazu kommt: Der „Homo Sowjeticus“, der vom totalitären Sowjetsystem geprägte Menschentyp, ist noch allgegenwärtig. Der bekannte Soziologe Lew Gudkow beschreibt diesen Mindset vieler seiner Zeitgenossen so: Es ist ein misstrauischer, empathieloser Mensch, der sich allenfalls für das Wohl seiner engsten Freunde und Familienmitglieder engagiert. Dem Staat misstraut er, ist aber trotzdem bereit, den Mächtigen zuzujubeln – auch gegen besseres Wissen. Weil er glaubt, dass alles andere ihm nur schadet. Solche Menschen sind keine mutigen Widerstandskämpfer. Da wird keiner auf die Barrikaden gehen.
Aber müsste denn die neue Generation der Russinnen und Russen nicht längst ganz anders ticken?
Das habe er auch geglaubt, so Lew Gudkow. Doch die Umfragen seines Levada-Instituts zeigten längst: Der sogenannte Homo Sowjeticus sterbe nicht aus, wie erwartet, seine Verhaltensweisen würden vielmehr von Generation zu Generation weitergegeben. Es wird daher wohl noch lange dauern, bis wir in Russland eine aufgeklärte, selbstbewusste Zivilgesellschaft erleben.
Udo Lielischkies (* 13. Dezember 1953 in Köln) ist ehemaliger Leiter des ARD-Studios in Moskau. Er wuchs in Köln und Mechernich-Kommern auf. Während des Studiums arbeitete er als staatlich geprüfter Tennislehrer. Danach war er als freier Mitarbeiter für den „Kölner Stadt-Anzeiger“ tätig.
Seit 1980 war er für den WDR tätig. 1994 wurde er Korrespondent im ARD-Studio Brüssel, wechselte 1999 nach Moskau und 2006 nach Washington. 2012 kehrte er nach Moskau zurück und war dort von 2014 bis 2018 ARD-Studioleiter. Seine Filme erhielten drei Nominierungen für den Deutschen Fernsehpreis, weitere für Festivals in New York, Moskau und Monte Carlo.