Mehr als Spott und HämeWarum wir Jogi Löw viel zu verdanken haben
- Der letzte Eindruck wird nicht bleiben: Warum Bundestrainer a. D. Joachim Löw in seiner Laufbahn mehr für den deutschen Fußball geleistet hat als es im Moment von Spott und Häme den Anschein hat.
In knapp hundert Jahren hatte der DFB zehn Bundestrainer. Die meisten fanden nicht den richtigen Zeitpunkt für den Rückzug – auch nicht Joachim Löw. Das ist aber „au scho“ fast alles, was man ihm vorwerfen kann. Den Stillstand der letzten Jahre ausgenommen.
Es ist wieder die Zeit für deftige Kritik, gewürzt mit Häme und Spott. Das 0:2 im Achtelfinale von London hat die Schleusen geöffnet, und alle, die sich die Tür zur Huldigung offen gelassen haben, wollen beim Tribunal über den Bundestrainer a.D. als Erste zu Wort kommen.
Vieles von dem, was sich in den vier EM-Spielen offenbarte, hatte sich abgezeichnet. Mats Hummels und Thomas Müller, 2018 noch Teil des Problems, nun Teil der Lösung? Wer sollte die Tore schießen für ein Land, das seit Jahren keinen Goalgetter der Weltklasse hat? Wie sollte ein mannschaftstaktisches Konzept eingespielt sein, wenn davon in den Monaten kaum etwas zu erkennen war?
Den richtigen Zeitpunkt zum Ausstieg verpasst
Natürlich hat Löw an der Stagnation spätestens seit dem WM-Desaster 2018 maßgeblichen Anteil. Dass er nicht mehr die Kraft hatte, eine neue Generation für einen Neuanfang zu begeistern, hätten andere erkennen müssen. Hier fehlt es im DFB – an einer kritisch-distanzierten Instanz mit der Zuständigkeit für unangenehme Fragen und Entscheidungen.
Der Bundestrainer hat den richtigen Zeitpunkt für einen Rückzug verpasst; 2014 wäre ideal gewesen, denn nichts ist schwerer, als den größten Erfolg zu wiederholen. Löw reizte die Europameisterschaft, dieser Titel fehlte ihm; außer Helmut Schön schaffte kein Vorgänger das Double. Doch es reichte nicht, nach dem Sieg gegen Italien fehlten gegen Frankreich im Halbfinale 2016 Kraft, Klasse und Glück. Was in anderen Fußball-Nationen gefeiert oder zumindest mit Zufriedenheit registriert worden wäre, war und ist den meisten Deutschen zu wenig. In anderen Ländern wäre man froh, wenn sich das Nationalteam so regelmäßig für die Endrunden qualifizieren würde.
Der Beginn der „Anti-Jogi-Welle“
Löw hat das gespürt, als er sich mit seiner Mannschaft bei der EM 2012 in der Vorrunde mit effektivem Stil durch eine sogenannte „Todesgruppe“ manövrierte, sich dann aber im Halbfinale gegen Italien bei der Taktikwahl verzockte. In Deutschland wogte gleich die Anti-Jogi-Welle. „Jetzt muss Löw liefern“ – mit dieser Ansage wurde die Nationalmannschaft 2014 nach Brasilien geschickt. Und Löw lieferte – das 7:1 gegen Brasilien bleibt ein Sieg mit Ewigkeitswert. Nach dem 1:0-Arbeitssieg gegen Frankreich im Viertelfinale musste sich Löw fragen lassen, ob er enttäuscht sei.
Aus der Ruhe ließ er sich kaum bringen; in den Pressekonferenzen blieb er ruhig und sachlich. Große Posen und emotionsgeladene Reden mied er, seine Gefühle behielt er für sich, im Triumph wie im Debakel. Was auch arrogant wirkte, wie bei solchen Sätzen: „Ich stehe über den Dingen.“
So blieb es dem manchmal menschenscheu wirkenden Bundestrainer verwehrt, die Herzen der Fans zu erobern. Seine Ausstrahlung signalisierte eher Distanz. Ob er gar nicht immer verstanden werden wollte? Sein monatelanges Abtauchen nach den Turnieren vergrößerte die Kluft zur Fußball-Nation, der er das vermeintliche Anrecht auf Teilhabe verweigerte. Umso mehr Angriffsfläche bot Löw, wenn er in Konflikte verwickelt war. Zu durchschauen war der Mensch Löw selten.
Es bleibt eine einmalige Bilanz und mehr
Was bleibt? Zunächst die einmalige Bilanz von sechs Turnier-Endrunden in Folge, bei denen Deutschland mindestens das Halbfinale erreichte; mit dem Gewinn des vierten WM-Titels als Höhepunkt. Doch zählt es nicht noch mehr, wie sich unter Löw seit 2004 (erst als Assistent) die Spielweise entwickelt hat? Plötzlich wurde der deutsche Fußball beneidet um Spielwitz, taktische Variabilität und fußballerische Klasse; um modernes Torwartspiel, Freiraum für Talente und Ballbesitzfußball.
Das alles konnte beginnen, weil nach dem Debakel bei der EM 2004 und dem Rücktritt von Rudi Völler der DFB gezwungen war, dem Projektmanager des Neuanfangs nahezu alle Freiheiten zu gewähren. Jürgen Klinsmann baute um die Nationalmannschaft ein Team von Spezialisten, das die Eliteauswahl abschottete vom Einfluss der DFB-Funktionäre und von dem wachsenden Talentezulauf in den Nachwuchsleistungszentren profitierte.
In diesem Team war Löw der detailversessene Taktikspezialist und dann der logische Nachfolger des nach dem Sommermärchen ausgepowerten Klinsmann. Er ließ sich im Vertrag Vollmachten festschreiben, sodass er das von Klinsmann entworfene Konstrukt ausbauen konnte. Dabei führte Löw seine Mannschaft auf der Basis von Vertrauen, Menschlichkeit und Fairness. Die Profis dankten es ihm mit Loyalität und Leistung; einige fühlten sich bei der Nationalelf wohler als in ihren Clubs.
Immer Respekt und Anstand gezeigt
Trainern, Spielern und Fans der Gegner sowie den Journalisten begegnete Löw mit Respekt und Anstand; er rastete nicht aus und blieb ein Gentleman des Fußballs. Auch das gehört zur Würdigung dieses Bundestrainers, der ein weltoffenes, freundliches, zeitgemäßes Deutschland repräsentierte.
Das ist nicht wenig – zumal in Zeiten, in denen der Fußball gesellschaftliche Anerkennung nicht nur durch Siege erreichen kann. Wäre es denn schlimm, wenn man sich an Löws letzte EM auch erinnert, weil sein Torwart demonstrativ eine Kapitänsbinde in Regenbogen-Optik trug und er wie seine Spieler vor dem Spiel kniete, um ein Zeichen gegen Rassismus zu setzen?
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Im Moment fallen viele über ihn her, doch der letzte Eindruck wird nicht dauerhaft der bleibende sein. Schon morgen steht ein anderer im Blickpunkt, der elfte Bundestrainer ist schon längst gefunden. Hansi Flick schlägt ein neues Kapitel auf; er ist der erste Bundestrainer, der von einem internationalen Spitzenclub zum DFB kommt. Die Erfahrung lehrt, dass die Effekte eines Trainerwechsels besonders gut wirken, wenn der Kontrast zwischen Vorgänger und Nachfolger ausgeprägt ist. Der große Helmut Schön hat das so beschrieben: „Ein neuer Trainer kommt und erkundigt sich, wie sein Vorgänger es gemacht hat. Und dann tut er einfach das Gegenteil…“