Vor genau 50 Jahren ereignete sich auf dem Betzenberg ein Jahrhundert-Spiel zwischen dem 1. FC Kaiserslautern und Bayern München.
Fußball-Historie„Die Mutter aller Bayern-Blamagen“
Seit knapp 60 Jahren gehören Erfolge des FC Bayern zum deutschen Fußball-Alltag. Dennoch oder gerade deshalb liefern die Debakel, Pleiten und Aussetzer der Münchner Seriensieger Stoff für Schadenfreude: „Zieht den Bayern die Lederhosen aus.“ Die Mutter dieser Bayern-Blamagen war eines der spektakulärsten Bundesliga-Spiele aller Zeiten – vor genau 50 Jahren.
Zwei Meisterschaften in Folge hatten die Bayern gefeiert, sie waren als Topfavorit in die Saison 1973/74 gegangen. Nach Kaiserslautern fuhren die Stars von Trainer Udo Lattek am 20. Oktober 1973 dennoch mit einem mulmigen Gefühl, denn in der aufgeheizten, feindseligen Atmosphäre der engen Kampfbahn Betzenberg waren sie in ihrer Spielkunst schon oft entzaubert und in ihrem Mia-san-mir-Selbstvertrauen erschüttert worden.
Und dann standen Franz Beckenbauer, Sepp Maier, Gerd Müller und Co. nach der ersten Halbzeit in der Kabine und staunten über sich selbst: 3:1 lagen sie vorn, locker hatten sie den FCK beherrscht. „Wir haben angefangen wie ein Weltmeister“, sagte Lattek später über die erste Hälfte. Und die zweite begann mit einem typischen Müller-Tor – 1:4 nach knapp einer Stunde.
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Lautern lag nach einer Stunde 1:4 zurück
35000 Zuschauer waren damals auf dem ausverkauften „Betze“ dabei, und es gab tatsächlich etliche, die das Stadion vorzeitig verließen, um das Debakel nicht erleben zu müssen. Aber es gab kein Debakel, sondern einen Triumph, der für die Fußball-Pfalz tiefer als alle anderen Siege im kollektiven Gedächtnis sitzt. „Jeder FCK-Fan weiß so genau wie bei der Mondlandung und beim Mauerfall, wo er an diesem Tag war“, hieß es in der SWR-Dokumentation „7:4 – wer erinnert sich?“.
Mit drei Toren wie aus dem Nichts innerhalb einer Viertelstunde machte der Außenseiter aus dem vermeintlich aussichtslosen Rückstand ein 4:4. Es war wie der Untergang der Titanic; die Könige der Liga gingen im unaufhaltsamen Siegeswillen der Lauterer unter. Nicht mal die Fehlentscheidung von Schiedsrichter Horst Bonacker, einen Treffer von Klaus Toppmöller nicht anzuerkennen, konnte den FCK aufhalten. Kapitän Ernst Diehl, ein unauffälliger Abwehrspieler, wurde vom Flow des Moments zu einem Solo befähigt, das er eiskalt mit einem seiner seltenen Tore abschloss. Als am Abend die ganze Pfalz im Feierrausch lag, saß er im ZDF-Sportstudio und berichtete Harry Valérien staubtrocken von der Sensation und versenkte anschließend genauso cool drei Bälle in der Torwand. „Hi-ha-ho – Bayern ist k.o.“, brüllten die Zuschauer, und sie hatten noch nicht genug. Der FCK auch nicht: Herbert Laumen schoss zwei wunderbare Tore in den letzten drei Minuten, über die er viel lieber spricht als von dem Pfostenbruch, den er 1971 in Mönchengladbach verursachte. 7:4 – ein Fußballspiel wie ein Naturereignis, vom Magazin „Sport-Bild“ zum „geilsten Bundesliga-Spiel aller Zeiten“ gekürt.
Der erst 36-jährige FCK-Trainer sprach vom größten Tag seiner Karriere und gab zu: „Das ist mir noch nie passiert, aber ich habe geheult vor Rührung über die Aufholjagd meiner Mannschaft.“ Es war der spätere Bundestrainer Erich Ribbeck, der gerade in Kaiserslautern angefangen hatte. In der Kabine nebenan schloss sich Ribbecks Kollege und Freund Lattek mit seiner Mannschaft 20 Minuten ein. Präsident Wilhelm Neudecker donnerte in die Runde der Profis, dass jeder, der keine Lust mehr habe, für den FC Bayern zu spielen, nur die Hand heben müsse, um das Arbeitsverhältnis zu beenden. Manager Robert Schwan warnte, es solle ihm niemand kommen mit der Ausrede, so etwas könne jedem Verein mal passieren: „Wir sind nicht irgendein Verein, wir sind der FC Bayern!“
Obwohl Lattek nichts mehr hasste als Niederlagen, spürte er instinktiv, dass er auf seine Verlierer nicht einprügeln durfte – immerhin stand das hochbrisante erste deutsch-deutsche Duell mit Dynamo Dresden im Europapokal der Landesmeister bevor. SGD-Trainer Walter Fritzsch hatte die 90 Minuten am Betzenberg eigenhändig mit einer Schmalfilm-Kamera aufgezeichnet.
Und wie ging es weiter? Die Bayern zeigten sich von Schlagzeilen wie „Eine Meistermannschaft zerfiel“ (Kicker) oder „Die Bayern erlebten ihr Waterloo“ (Sport) unbeeindruckt. Sie machten erst den Titel-Hattrick perfekt, gewannen dann erstmals den Europapokal der Landesmeister und stellten am 7. Juli 1974 in München sechs Spieler der deutschen Weltmeister-Elf: Sepp Maier, Katsche Schwarzenbeck, Franz Beckenbauer, Uli Hoeneß und Gerd Müller, dazu kam der in Kaiserslautern verletzt fehlende Paul Breitner. Der prägte den Spruch zur jahrelangen Sieglosigkeit der Münchner am Betzenberg, als er vorschlug: „Am besten schicken wir die Punkte gleich mit der Post zum Betzenberg.“
Der Held des Tages heißt Seppel Pirrung
Dort schwelgt man in diesen Tagen noch mehr als üblich von dem Spiel der Spiele, das selbst das 5:0 des FCK gegen Real Madrid überstrahlt. Einmal pro Woche werde er mindestens darauf angesprochen, sagt Klaus Toppmöller, der als Spieler und als Trainer ein Bayern-Schreck war. Verteidiger Fritz Fuchs brachte es noch am Mittwoch bei seinem 80. Geburtstag treffend auf den Punkt: „Dieses Spiel habe ich auch 50 Jahre später noch ganz genau vor Augen. So etwas vergisst man nie!“
Am 20. Oktober 1973 hieß der Held des Tages Seppel Pirrung. Der 1,67 Meter große Dribbler, ein bescheidener, beinahe schüchterner Junge aus dem Pfälzerwald, machte nicht nur wegen seiner drei Treffer das Spiel seines Lebens. Er verstarb am 11. Februar 2011 in der Gewissheit, dass sein Name auf ewig mit einem der stolzesten Tage des 1. FC Kaiserslautern verknüpft sein wird.