Die deutschen Handballer befinden sich nach der Niederlage im WM-Viertelfinale gegen Portugal im Stimmungstief. Torwart Andreas Wolff fordert: „Wir müssen einiges aufarbeiten.“
Aus bei Handball-WMLeise Kritik an Bundestrainer Alfred Gislason
Nach und nach verlassen die deutschen Handballer am frühen Donnerstagmorgen das Mannschaftshotel am Stadtrand von Oslo. „Es tut weh“, sagt Spielmacher Juri Knorr von den Rhein-Neckar Löwen, als er seinen großen Koffer durch die schmucke Lobby schiebt. Der Frust und die Enttäuschung stehen ihm ins Gesicht geschrieben – wie allen anderen auch. Keine Frage: Das dramatische Aus im WM-Viertelfinale gegen Portugal wirkt nach. Es ist ein schwerer Schock. Und es wirft eine Menge Fragen auf. Einige davon versucht der Deutsche Handballbund (DHB) nur wenige Stunden nach der schmerzhaften 30:31-Niederlage nach Verlängerung zu beantworten. Andere wiederum bleiben offen. Und sie werden den DHB beschäftigen, wenn der Verband das Turnier ernsthaft kritisch analysieren will.
Das Entsetzen über das Ende aller Medaillenträume ist auch Nationalmannschaftsmanager Benjamin Chatton anzusehen, als er mit versteinerter Miene auf dem Podium im Konferenzraum des Mannschaftshotels sitzt. Direkt neben ihm nimmt Bundestrainer Alfred Gislason Platz. Der Isländer verzieht ebenfalls kaum das Gesicht. Von ihm kennt man es allerdings nicht anders. Gewonnen? Verloren? Es lässt sich selten an seiner Gestik und Mimik ablesen. Eigentlich nie. Um also zu verstehen, was er fühlt und vor allem auch denkt, ist es besonders wichtig, was der 65-Jährige sagt. Und das ist dann mindestens erstaunlich: „Ich sehe das Turnier nicht als Rückschritt.“
Genau das hatte Gislason schon unmittelbar nach der Niederlage am späten Mittwochabend gesagt, weshalb seine wiederholenden Worte nach einer kurzen Nacht ein bisschen flehend bis beschwörend wirken. So ganz nach dem Motto: Wenn ich es oft genug erzähle, glaube ich es auch. Und alle anderen. Dann wird der Wunsch zur Wirklichkeit. Ob das tatsächlich gelingt? Einen etwas anderen und vor allem kritischeren Blick auf die Weltmeisterschaft haben einige Spieler. „Wir haben das Minimalziel erreicht, aber auch nicht mehr. Das ist schade“, sagt Mittelmann Luca Witzke. Noch deutlicher wird Abwehrspezialist Christoph Steinert: „Das ist eine Riesenenttäuschung. Wir haben uns das anders ausgemalt.“ Und vor allem: „Wir sind normalerweise besser als das hier.“
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Steinerts Worte sind eine ehrliche und treffende Analyse, die sowohl für das Viertelfinale im Speziellen als auch für das Turnier im Gesamten zählt. Weshalb der gegen Portugal mit 21 Paraden einmal mehr überragende Torwart Andreas Wolff nicht einfach so zur Tagesordnung übergehen will: „Wir müssen einiges aufarbeiten. Ich habe meine Gedanken dazu, warum es nicht gereicht hat. Aber die werde ich öffentlich nicht teilen.“ Man darf gespannt sein, was der Keeper intern anspricht. Die offensichtlichen Fragen lauten: Worum wird es ihm gehen? Und vielleicht auch: um wen? Klar ist: Dem DHB stehen unter normalen Umständen ein paar unruhige Tage ins Haus. Vielleicht auch Wochen. Zumal es längst kritische Stimmen gibt.
Ex-Nationalspieler Michael Kraus widersprach dem Bundestrainer bereits beim Streamingdienst „Dyn“ in der Turnierbewertung: „Bullshit, natürlich ist das ein Rückschlag.“ Stefan Kretzschmar, Sportvorstand der Füchse Berlin, stimmte ihm zu. 2007-Weltmeister Johannes Bitter, Sportchef beim Bundesligisten HSV Hamburg, wurde in der ARD ganz konkret. Die stets wiederkehrenden Probleme zu Spielbeginn machen ihn fassungslos: „Das ist ja gegen Portugal nicht zum ersten Mal passiert. Wir brauchen fast in jedem Spiel die ersten 20 Minuten, um überhaupt mal zu lernen und zu verstehen, was der Gegner macht. Da frage ich mich ganz ehrlich: Wo ist die Vorbereitung?“ Bitter äußerte sich zum Arbeits- und Kernbereich des Trainers – ohne dessen Namen zu nennen. Ob ihn Gislasons Erklärungen zufriedenstellen?
Der Bundestrainer präsentiert am Donnerstagmorgen ausführlich seine Sicht der Dinge. Oder besser gesagt: Er versucht, zu erklären, warum das Turnier so lief, wie es lief. Renars Uscins habe seiner Meinung nach zu viel spielen müssen, weil sich sein Vertreter Franz Semper verletzt hatte. Die Krankheitsfälle vor und während der Weltmeisterschaft hätten zudem die Arbeit erschwert. Und die Belastung der deutschen Spieler in der Bundesliga sei ein Nachteil gegenüber den Portugiesen. Zur Wahrheit gehört aber ebenso: Uscins wurde im letzten Hauptrunden-Spiel gegen Tunesien geschont und hatte bis zum Viertelfinale fast eine Woche Pause.
Und die bislang durchs Turnier rauschende dänische Nationalmannschaft ist auch fast komplett in der Bundesliga aktiv. Ermüdungserscheinungen? Fehlanzeige. Oder sie werden zumindest nicht zum Thema gemacht. Die Deutschen beenden die Weltmeisterschaft als Sechster. Was rein faktisch gesehen nach EM-Platz vier und Olympia-Silber dann doch ein Rückschritt ist. Gislason verweist hingegen darauf, dass es anderen Medaillenanwärtern noch schlechter ergangen sei: „Wir haben einen Haufen großer Mannschaften hinter uns gelassen.“ Zum Beispiel den Olympiadritten Spanien, den Gastgeber Norwegen, den Mitfavoriten Schweden und die stets hoch gehandelten Isländer. Sie alle schnitten noch schlechter als die Deutschen ab. Reicht das als Erklärung?