Andrea Kanonenberg will für die SPD in den Bundestag. Die 43-Jährige kandidiert erstmalig im Wahlkreis 81 (Kreis Euskirchen/Erftstadt, Brühl, Wesseling).
Bundestagswahl 2025Kanonenberg (SPD) aus Wesseling: „Der Strukturwandel hat die Überlebensgeister geweckt“
Am 23. Februar sind rund 350.000 Wahlberechtigte im Rhein-Erft-Kreis aufgerufen, ihre Stimme bei der Bundestagswahl abzugeben. In den beiden Wahlkreisen des Rhein-Erft-Kreises treten 17 Kandidaten für ein Direktmandat an, der vermutlich für einen Einzug in den neuen Bundestag reichen wird. Wir stellen von heute an Bewerber vor. Den Anfang macht Andrea Kanonenberg (SPD) – sie kandidiert im Wahlkreis 91 (Kreis Euskirchen/Erftstadt, Brühl, Wesseling). Mit ihr sprach Kathrin Höhne.
Wann haben Sie begonnen, sich für Politik zu interessieren? Gab es eine Initialzündung?
Ursprünglich war Politik für mich einfach eine Wissenschaft, die ich in Bonn studiert habe, weil ich sie seit der Schulzeit interessant fand. Der Studiengang in Bonn war damals aus alter bundesstädtischer Tradition sehr zeitgeschichtlich orientiert. Mich hat die Geschichte unseres Landes in der Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg fasziniert; wie die Kanzlerschaften ganz unterschiedlicher Männer und einer Frau und viele, viele Einzelentscheidungen uns als Land innenpolitisch prägten und uns einen neuen Platz in Europa und in der Welt gaben. Ich habe dabei viel über Aktion, Reaktion und Strategie gelernt.
Alles zum Thema Deutscher Bundestag
- Kölner CDU-Politikerin Warum hat ihre Fraktion eine Mehrheit mit der AfD in Kauf genommen, Frau Güler?
- Beobachter warnen Sorge wegen Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte und Moscheen
- Mahnwache in Siegburg Mehr als 200 Menschen versammelten sich auf dem Marktplatz für Demokratie und Vielfalt
- Migrationsdebatte Wagenknecht fordert Volksabstimmung zu Migration – Zuzug soll gekappt werden
- Wortgefecht auch mit Lindner bei X „Disqualifikation“ für Kanzleramt – Habeck attackiert Merz bei Auftritt in Köln
- Christian Lindner „Ich hätte Friedrich Merz zu diesem Manöver nicht geraten“
- Migrationspolitik Rhein-Sieg-Abgeordnete verteidigen ihr Abstimmungsverhalten im Bundestag
Erst die Jobs als Pressereferentin bei der Stadt Bonn in der SPD-Fraktion und dann als Fraktionsgeschäftsführerin haben dem Ganzen einen handfesten Realitätscheck gegeben. Das Erarbeiten von Ideen, das Verhandeln von Mehrheiten, der Austausch mit Bürgern, Vereinen und Verbänden, die Möglichkeit, den Alltag und das Leben der Menschen zu gestalten; das hat mich gepackt und nicht mehr losgelassen.
Welches politische Ereignis hat Sie in den vergangenen Jahren am meisten bewegt oder berührt?
Der Brexit hat mich sehr beschäftigt. Zunächst die absichtlichen Fehlinformationen im Wahlkampf zum Referendum, was die Höhe möglicher finanzieller Einsparungen betraf. Das hat mich aus der Ferne wütend gemacht. Einer der großen Wahl-Erfolge von Fake News. Dann begann der Verhandlungsmarathon, und zum Schluss stand die Abstimmung im Europäischen Parlament über das Austrittsabkommen. Ich habe die Debatte live verfolgt, als eine große europäische Nation, die uns im Zweiten Weltkrieg befreit hat, Europa verließ. Nachdem Parlamentspräsident David Sassoli das Ergebnis verkündet hatte, standen die nicht-britischen und ein paar britische Parlamentarier auf, hielten sich an den Händen und sangen „Auld Lang Syne“. Das hat mich erwischt. Ich hatte Gänsehaut, fühlte mich ausgerechnet in diesem Moment so europäisch wie es nur geht und hab ein paar Tränchen der Rührung vergossen. Für uns ist es so selbstverständlich, von befreundeten Ländern umgeben zu sein, dass wir ganz vergessen, welch langen Weg wir miteinander zurückgelegt haben, von den Trümmern des letzten großen Krieges bis heute.
Welcher lebende Politiker imponiert Ihnen? Wer hat Sie geprägt?
Einer, der mich sehr geprägt hat, ist leider schon verstorben. Werner Esser war einer der ersten Kommunalpolitiker, die ich kennengelernt habe. Er war stellvertretender Fraktionsvorsitzender in Bonn und der heimliche Bürgermeister seines Stadtteils Kessenich. Von ihm habe ich gelernt, wie man sich um einen Wahlkreis kümmert, dass man immer ansprechbar ist und jede kleine Hilfe ganz viel für den Alltag bedeuten kann. Im September 2015 ist er auf dem Weg zu seiner eigenen Wahlparty zusammengebrochen und dann verstorben. Er wollte Bürgermeister der Stadt seiner Kindheit und Jugend – Bad Münstereifel – werden. Das wäre er wohl auch geworden. Nach dem ersten Wahlgang lag er vorn. Nun darf ich in dem Wahlkreis kandidieren, in dem sein Bad Münstereifel liegt. Das ist mir eine große Ehre.
Welcher Politiker hat am meisten für den Rhein-Erft-Kreis geleistet?
Edgar Moron! Er hat sich über Jahrzehnte im Rhein-Erft-Kreis für die Verbesserung der Infrastruktur, die Förderung von Bildungseinrichtungen und für soziale Gerechtigkeit eingesetzt. Er hat Initiativen zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Unterstützung von Unternehmen in der Region vorangetrieben und sich für den Ausbau von Nahverkehrsanbindungen und die Förderung nachhaltiger Mobilität eingesetzt. Im Landtag hat er uns über 20 Jahre vertreten. Dort und im Kreis war er für seine Geradlinigkeit, sein unermüdliches Engagement und seine politische Fairness über Parteigrenzen hinweg geschätzt.
Wie erklären Sie jemandem in Berlin, was der Rhein-Erft-Kreis ist?
Der Kreis und seine zehn Städte sind bekannt für ihre industrielle Vergangenheit und Gegenwart, insbesondere im Bereich des Braunkohleabbaus und der Petrochemie. Die Region bietet eine Mischung aus ländlichen und urbanen Lebensräumen und viele Freizeitmöglichkeiten, wobei auch die Nähe zu Köln und Bonn eine zusätzliche Attraktivität bietet. Der Rhein-Erft-Kreis ist ein spannender Ort mit Potenzial, der Tradition und Fortschritt vereint. In den letzten Jahren ist hier viel passiert. Der Strukturwandel hat die Überlebensgeister geweckt und die Wirtschaft legt dabei Tempo vor.
Der Kreis wird als Wohnort immer attraktiver und wuchert mit seinen Pfunden. Wie das bei Landkreisen so ist, die einst aus Städten und Gemeinden wild zusammengewürfelt wurden, ist eine gemeinsame Identität auch nach 50 Jahren noch nicht entstanden. Das kann aber auch jemand aus Berlin nachempfinden, der jemanden aus Spandau fragt, ob er sich als Berliner fühlt.
Was wollen Sie in Berlin für den Rhein-Erft-Kreis erreichen?
Meine Motivation für den Bundestag zu kandidieren, ist aus meiner Arbeit in der Kommunalpolitik und der Kommunalverwaltung entstanden. Jeden Tag sehe ich, wie die Kommunen an ihre Leistungsgrenzen und darüber hinaus gebracht werden, weil die Aufgaben von Bund und Land weitergegeben werden, ohne dass eine ausreichende Finanzierung dafür folgt. Wenn das so weitergeht, werden die Städte nur noch ihre Pflichtaufgaben erfüllen und immer mehr freiwillige Aufgaben in Kultur, Wirtschaftsförderung etc. streichen müssen. Dabei sind das die Dinge, die unsere Städte lebenswert machen. Am Ende steht oft eine Erhöhung der Grund- und Gewerbesteuern, damit das Geld reicht.
Der Fachkräftemangel bleibt. Denn die Wirtschaft zahlt in entscheidenden Berufsbildern besser als der Öffentliche Dienst. Die Fördermittelkulissen, mit denen die strukturelle Unterfinanzierung aufgefangen werden soll, sind realitätsfern zugeschnitten und geprägt von endlosen bürokratischen Verfahren. Das kann ich von hier aus aber nicht ändern. Deshalb möchte mich in Berlin für unsere Städte hier und Kommunen überall einsetzen. Auf Entbürokratisierung ist auch die Wirtschaft bei uns angewiesen. Genehmigungs- und Planungsverfahren müssen beschleunigt und digitalisiert werden. Außerdem muss die Schuldenbremse reformiert werden, damit endlich wieder investiert werden kann.
Mit wie vielen Wählern haben Sie seit Beginn des Wahlkampfs Kontakt gehabt und wie viele werden es schätzungsweise bis zum 23. Februar sein?
Das kann ich nicht beantworten. Ich widme seit dem 13. Januar jeden Tag voll und ganz dem Wahlkampf. Ich stehe an Infoständen in allen Städten und Gemeinden des Wahlkreises, besuche Organisationen und Einrichtungen und gehe von Haustür zu Haustür, um mit den Menschen im Wahlkreis ins Gespräch zu kommen und zu hören, wo der Schuh drückt und was sie von einer Abgeordneten erwarten. Das werde ich noch bis einschließlich 22. Februar so machen. Das wüsste ich in Zahlen nicht zu benennen.
Wie würden Sie Nichtwähler davon überzeugen, sein Kreuz auf dem Stimmzettel zu machen?
Wer nicht wählt, überlässt anderen die Entscheidung über Themen, die uns alle betreffen – von Bildung über Gesundheit bis hin zu sozialer Gerechtigkeit. Eine Stimme ist Ausdruck deiner Meinung und deiner Werte. Jede Wahl ist eine Chance, Veränderungen herbeizuführen und für die Themen einzutreten, die dir wichtig sind. Immer wieder gibt es ganz knappe Wahlergebnisse; gerade um Wahlkreise. Jede Stimme kann den Unterschied machen.
Welchem Ihrer Mitbewerber würden Sie den Einzug ins Parlament gönnen und fachlich zutrauen?
Christian Schubert brächte frischen Wind in den Bundestag. Er ist klug und eloquent, fest verwurzelt in unserem Wahlkreis und politisch über die Region hinaus vernetzt. Und vor allem hat er keine Angst vor Platzhirschen. Er wäre ein Gesicht für einen Generationswechsel und eine Identifikationsfigur für die Menschen in unserem Wahlkreis, die sich in konservativen Weltbildern nicht wiederfinden. Ein Einzug in den Bundestag käme jetzt sehr früh, mögen einige sagen. Das muss aber so sein, wenn der Bundestag unsere Gesellschaft widerspiegeln soll.
Ich bin Herrn Seif und Herrn Herbrand dankbar für ihren jahrelangen Einsatz für unseren Wahlkreis. Beide sind anerkannte Fachleute in ihren Bereichen. Das Abstimmungsverhalten ihrer beiden Fraktionen gemeinsam mit der AfD in migrationspolitischen Fragen am 29. Januar im Bundestag jedoch macht es mir unmöglich, sie auf diese Frage zu nennen.
Mit welchem Politiker würden Sie niemals ein Bier trinken gehen?
Grundsätzlich bin ich immer interessiert an den Lebenswirklichkeiten anderer. Ich höre gern zu und möchte verstehen, wie jemand zu den jeweiligen Ansichten und Lebensentscheidungen gekommen ist. Ich glaube allerdings, ein Bier mit Björn Höcke bräuchte ich nicht, um festzustellen, dass ich mir nicht anhören kann und möchte, was er über seine Sicht auf die Welt zu sagen hat.
Andrea Kanonenberg (43) fühlt sich ihrer Heimatstadt sehr verbunden, hat hier das Gymnasium besucht, in Bonn studiert. Die Politik- und Sprachwissenschaftlerin leitet derzeit den Geschäftsbereichs Bürgermeisters bei der Stadt Wesseling. Ob Bildung, Mobilität, Wohnen oder Digitalisierung, in Berlin will sich die stellvertretende Vorsitzende der Rhein-Erft-SPD für mehr Unterstützung vom Land und vom Bund für die Kommunnen einsetzen. (höb)