Nach drei Jahren zieht die Polizei-Ermittlungsgruppe „BAO Berg“, die ausgehend von den Verbrechen in Bergisch Gladbach bundesweit ermittelte, eine erschütternde Bilanz.
Köln – Das Entsetzen über die Taten waren Polizeipräsident Uwe Jacob am Mittwochmorgen erneut anzusehen. Mehrfach hatte der Behördenleiter in den vergangenen Monaten über den schweren sexuellen Missbrauch von Kindern die Öffentlichkeit informiert. Immer war Jacob angefasst. Die Fälle gehen dem erfahrenen Beamten sehr nah – so auch bei der Abschlusspressekonferenz. „Ich habe in meinem Beruf schon viel Leid gesehen. Aber dies sprengt alle Maßstäbe“, stellte Jacob klar.
„Schwer erträglich“, „unvorstellbar“ und „grausam“. Immer wieder sagten die Ermittler für die Bekämpfung der Kinderpornografie diese Worte, die deutlich machen, mit welcher Brutalität die Täter vorgehen. Die nicht zu ertragenden sexuellen Praktiken, die die Männer angewandt haben, sind oft zu grausam, um sie hier im Detail aufzuschreiben. Es gab Ermittler, die bei internen Besprechungen mit Tränen in den Augen den Raum verlassen haben, weil sie die Vorträge nicht ertrugen. Mehrfach kümmerten sich Polizeiseelsorgern um die Beamten. Polizeipräsident Jacob dankte jedem Ermittler, der durch seine Arbeit dafür gesorgt hat, dass Kinder aus den Händen der Peiniger geholt wurden.
439 Tatverdächtige bundesweit ermittelt
In dem riesigen Missbrauchskomplex, der in Bergisch Gladbach seinen Ursprung hatte, haben die Ermittler seit Ende 2019 bislang bundesweit 439 Tatverdächtige identifiziert. Zudem konnten 65 Kinder aus den Fängen von Pädokriminellen befreit werden. Die beachtliche Bilanz der Ermittlungen sei kein Grund zum Feiern, sagte Jacob weiter: „Dafür ist das Leid, das wir hier aufgedeckt haben, viel zu groß.“
Aus Nordrhein-Westfalen kamen demnach 102 der Beschuldigten. Die ersten Hinweise auf die Missbrauchsserie seien Ende Oktober 2019 bei der Polizei eingegangen, sagte Polizeipräsident Jacob weiter. Zur Gründung der sogenannten Besonderen Aufbauorganisation (BAO) „Berg“ hätten zunächst 30 Mitarbeiter die Ermittlungen übernommen. Später habe sich herausgestellt, dass deutlich mehr Polizisten gebraucht wurden. In der Spitze hätten allein in Nordrhein-Westfalen knapp 350 Beamte in dem Komplex ermittelt. Bundesweit wurden im Zusammenhang mit dem Missbrauchskomplex 27 Tatverdächtige festgenommen, davon 13 Beschuldigte in NRW. In 13 gerichtlich verhandelten Fällen wurden nach Angaben der Staatsanwaltschaft Köln insgesamt mehr als 80 Jahre Haftstrafe verhängt. Die Menge der Daten, auf der die Kölner Ermittler nun sitzen, ist gleichwohl riesig. Durch die Auswertung gefundener Datenträger waren sie nach eigenen Angaben auf Spuren gestoßen, die in der Theorie zu mehr als 30 000 Verdächtigen führen könnten. Da sie sich in Foren, Gruppenchats und in Messengerdiensten aber hinter Pseudonymen verbergen, ist die Identifizierung extrem schwierig. Dass am Ende 30 000 Anklagen erhoben würden, galt wegen der technischen und rechtlichen Gegebenheiten als utopisch.
Tausende Daten sichergestellt
Insgesamt stellte die Sonderermittlungsgruppe „Berg“ rund 4700 Datenträger sicher. „Um es mal ganz platt zu sagen: Die Keller hier im Polizeipräsidium sind voll mit sichergestellten Festplatten, Computern und Handys“, sagte Polizeipräsident Jacob. Sie bedürften alle noch der Auswertung.
Schlüsselfigur im Komplex Bergisch Gladbach erhielt zwölf Jahre
Jörg L. ist die Schlüsselfigur im Komplex Bergisch Gladbach gewesen. Er wurde im Oktober 2020 zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Das Landgericht Köln ordnete überdies die anschließende Sicherungsverwahrung des 43-Jährigen an. Die Richter befanden den Familienvater aus Bergisch Gladbach des sexuellen Missbrauchs, der Vergewaltigung und der Verbreitung von Kinderpornografie für schuldig.
Die meisten Taten betrafen seine eigene Tochter, die 2017 geboren wurde. Ab dem dritten Lebensmonat soll der Mann die Tochter missbraucht haben, urteilte die zuständige Kammer. Seine Taten führten die Ermittler zum weit verzweigten Netzwerk von Pädokriminellen. In der Anklage werden ungeheuerliche Taten bekannt. Zur ersten Missbrauchshandlung kam es laut Kölner Staatsanwaltschaft im Juli 2017: Am Wickeltisch, später auf dem Ehebett und im Planschbecken. Dutzende Male werden in der Anklage widerwärtige Szenen im Detail beschrieben. (ta)
Hunderte Verfahren seien an andere Staatsanwaltschaften abgegeben worden. „Wir haben Tatverdächtige aus allen Gesellschaftsschichten“, sagte Ermittlungsgruppenleiter Michael Esser. Darunter seien „Gutverdiener und hoch gebildete Menschen“ sowie „einfache Leute“. „Die gingen ganz normal ihrer Arbeit nach, und auch im Arbeitsumfeld gab es keine Hinweise darauf, dass solche Taten verübt wurden“, sagte Esser. In den meisten Fällen stammten die Beschuldigten den Ermittlern zufolge aus dem engsten Familienumfeld. Die Kinder, die dem Missbrauch zum Opfer fielen, waren zwischen unter einem Jahr und 17 Jahren alt. Das jüngste Vergewaltigungsopfer sei zum Tatzeitpunkt drei Monate alt gewesen. 65 Kinder seien aus „aktiven Missbrauchssituationen“ befreit worden.
Die Situationen bei den Verhören und Befragungen seien teilweise „sehr surreal“ gewesen, schilderte Kriminaldirektor Esser weiter – etwa wenn die Kinder nach der Trennung von den Missbrauchstätern geweint hätten. Zum Beispiel habe sich ein Mädchen während einer Anhörung verzweifelt an ein Stofftier festgeklammert, das es von seinem Onkel geschenkt bekommen habe. „Die Tragik in dieser Aussage nahm uns alle mit, denn dieser Onkel war unser Tatverdächtiger, der ihr unbeschreibliches Leid angetan hatte“, hieß es in einem Bericht des Einsatzleiters.
Die Kölner Beamten ließen nichts unversucht, um den Tätern schnell das Handwerk zu legen – auch ein schwerer Sturm hielt die Fahnder nicht auf. Es musste alles ganz schnell gehen: An einem Abend wollten Ermittler Beweismittel mit einem Hubschrauber nach Magdeburg bringen, damit dort ein Haftbefehl gegen einen Verdächtigen beantragt werden konnte. Oder anders gesagt: Es war große Eile geboten, damit es nicht wieder zu einem sexuellen Missbrauch kam. Doch das schlechte Wetter stoppte den Polizeihubschrauber und die Fahnder fuhren mit dem Streifenwagen schnell los.
„Ich glaube nicht, dass wir mit der ,BAO Berg’ eine erhebliche Abschreckung erreicht haben“, sagte Polizeipräsident Jacob. Sexueller Kindesmissbrauch finde weiter in der Gesellschaft statt und werde trotz Auflösung der Sonderermittlungsgruppe auch in Köln weiter „vehement“ bekämpft. „Wir werden weiter mit vollem Einsatz daran arbeiten, missbrauchte Kinder aus ihren schlimmen Situationen zu holen“, hatte Esser mehrfach gesagt. Er betonte dies auch am Mittwoch wieder.