Bergisch Gladbach – Erkenntnisignoranz, Hochwasserdemenz, Verantwortungsdiffusion und konzentrierte Unfairness: Mit vier Wortneuschöpfungen bringt Experte Albrecht Broemme seine Erkenntnisse provokant auf den Punkt, als er, von Berlin aus per Video zugeschaltet, zu den versammelten Katastrophen-Experten in der Thomas-Morus-Akademie spricht. Auch 14 Monate nach der Flutkatastrophe an Ahr und Erft, aber auch bei uns an Sülz und Wupper, steigt der Herzschlag, wenn der frühere Präsident des Technischen Hilfswerkes (THW) den Finger in die Wunden legt.
Nur ein Beispiel: Dass man bei Hochwasser Kellerräume und Tiefgaragen unbedingt meiden sollte, war Fachleuten spätestens seit der Sturzflut im niederbayerischen Simbach fünf Jahre zuvor bekannt. „In Simbach hat man die meisten Toten in Kellern und Tiefgaragen gefunden“, sagt Broemme, der zunächst im Auftrag der NRW-Landesregierung, später aber auch der Innenminister von Rheinland-Pfalz und Bayern Abläufe und Fehler am 14./15. Juli 2021 untersucht hat.
Keine Warnung vor Gefahren in Kellern
„Es wäre doch eine gute Botschaft an die Bevölkerung gewesen: »Wenn das Hochwasser kommt, bleibt aus den Kellern raus.« Warum wurde das nicht an die Bevölkerung kommuniziert?“ fragt Broemme an diesem Dienstagnachmittag in den Saal des Bensberger Kardinal-Schulte-Hauses. Hier haben sich Katastrophenschützer und Helfer aus Verwaltungen und Hilfsorganisationen, aber auch aus dem Bereich der Kirchen und der „Spontanhelfer“ versammelt, um drei Tage lang unter dem Titel „Wenn das Wasser kommt“ über „Katastrophenlagen in Folgen des Klimawandels“ zu reden.
Die Fachtagung im Kardinal-Schulte-Haus war die 17. und zugleich letzte einer Reihe von internationalen Treffen, die die Thomas-Morus-Akademie (TMA) und der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) in den vergangenen zwölf Jahren gemeinsam veranstaltet haben. Der geschäftsführende BDK-Bundesvorstand habe die Zusammenarbeit mit der TMA 2021 beendet, teilte der Bonner BDK-Mann Hermann-Josef Borjans bedauernd mit.
Ein Nachfolgemodell ist aber in Sicht: Für den BDK springen die Behördenspiel-Stiftung und die Dr. Axe-Stiftung ein. Opferschutzthemen werden also weiter in Bensberg behandelt. (sb)
Erkenntnisignoranz, Hochwasserdemenz, Verantwortungsdiffusion, also unklare, gesplittete Zuständigkeiten: Die ersten drei Schlagworte richten sich vor allem an Verantwortungsträger in Behörden und Organisationen, aber auch Betroffene, das vierte, „konzentrierte Unfairness“, an Massen- und soziale Medien. Gab es denn keine Warnungen vor den zu erwartenden extremen Regenfällen? Warum wurden keine bunten Laufbänder ins Fernsehprogramm eingespielt?
Beamtenapparat völlig überfordert
Begona Hermann, Vizepräsidentin der von ihrer Funktion mit der Bezirksregierung Köln vergleichbaren „Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion" (ADD) Trier, ist am ersten Tagungstag die zweite Hauptrednerin neben dem für NRW-Innenminister Herbert Reul eingesprungen Albrecht Broemme. Die hohe Beamtin, die nach eigenen Worten in ein paar Wochen in den Ruhestand geht, redet Tacheles, übt Selbstkritik.
Sie verdeutlicht die totale Überforderung des tausendköpfigen Beamtenapparates ihrer Behörde durch die Urgewalten. Sie berichtet, wie die ADD zwei Tage nach der Katastrophe die Einsatzleitung übernehmen musste, weil sich die Kreisverwaltung von Ahrweiler für überfordert erklärt hatte. Gesetzlich sei die ADD nie Einsatzleitung, außer wenn ein Atomkraftwerk hochgeht. In der ADD arbeiten Beamte, die Schulen und Weinbau betreuen, Akten ordnen und alles ordentlich im Rahmen ihrer Zuständigkeit verwalten.
Hilflos am Samstagnachmittag
Und dann die Katastrophe, bei der sich laut Hermann allein für Rheinland-Pfalz beziehungsweise für das Ahrtal später folgende Bilanz zeigt: mehr als 130 Tote, fast 800 Verletzte, 103 zerstörte Brücken allein im Ahrtal... Und die ADD-Chefetage steht zunächst vor der Frage: „Wie erreichen Sie am Samstagnachmittag Ihre Mitarbeiter?“
Die Beamtin wagt sich in Bensberg noch weiter aus der Deckung, lobt die unzähligen „Spontanhelfer“. Sie dankt der an diesem Tag ebenfalls anwesenden Missy Motown, einer Ahrtal-Bewohnerin, die ihre Brötchen eigentlich als Konzert-Veranstalterin verdient, sich jetzt aber mit ihrer ganzen Erfahrung in den Dienst der guten Sache stellt.
Beamtin dankt rothaarigem „Beamtenschreck"
Die Vize-Präsidentin spricht Missy Motown, die mit ihren damals roten Haaren noch mehr als Beamtenschreck rüberkam, beim Vornamen an. Ungefiltert wirkt auch ihre Kritik an der Aufarbeitung in Rheinland-Pfalz, am dortigen Untersuchungsausschuss: „Ein Untersuchungsausschuss sucht die oder, besser noch, den Schuldigen.“ Das verhindere eine gewisse Aufarbeitung. Es bedürfe einer „positiven Fehlerkultur, weil ich sonst nicht ehrlich sein kann“. Intern werde das zwar getan, „aber ich würde das lieber in größerem Kreise machen“.
Wie geht es nun weiter? Laut THW’ler Broemme darf den Spruch „Damit haben wir nicht gerechnet“ heute niemand mehr sagen. Politiker wie die Innenminister von NRW und Rheinland-Pfalz hätten wohl ihre Lektion gelernt, die Frage werde sein, wie sie sich gegen die Verwaltungen durchsetzen können.