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Serie

Rheinische Pioniere
Karlheinz Stockhausen war der Wegbereiter moderner Musik

Lesezeit 8 Minuten
Karlheinz Stockhausen am Rotationstisch

Karlheinz Stockhausen am Rotationstisch

Sie waren die ersten Start-up-Gründer und Influencer: Menschen, die im Rheinland wirkten und deren Ideen bis heute faszinieren. Unsere Serie stellt die „Rheinischen Pioniere“ und ihre Erfolgsgeheimnisse vor.

Was macht Karlheinz Stockhausen zu einem Pionier?

Er verkörpert den Prototypen eines Pioniers wie kaum ein anderer: Karlheinz Stockhausen war unter den Komponisten des 20. Jahrhunderts der wohl exzentrischste Einzelgänger und zugleich einer der genialsten Erfinder. Er gilt als der bedeutendste deutsche Komponist der Nachkriegszeit und hat Musiker verschiedenster Richtungen weltweit beeinflusst wie beispielsweise Pink Floyd, David Bowie oder Frank Zappa . Die Beatles bildeten sein Gesicht auf einem Albumcover ab.

Er wurde sogar als Vater der Techno-Musik betitelt. Dabei kam er aus erzkatholischen Verhältnissen, tief verwurzelt im Rheinland. Stockhausen komponierte mehr als 370 Werke, darunter die Oper „Licht“, an der er über 25 Jahre lang arbeitete. Zu seinen Werken gehören neben Bühnen- und Orchesterwerken Vokalmusik, Kammermusik und elektronische Kompositionen. Seine radikalen Ideen riefen Begeisterung wie Skandale hervor, sein Auftreten und seine esoterisch geprägte Lebensweise wurden gelegentlich belächelt – am Ende seines Lebens erhielt er aber weltweit Anerkennung.

Was ist über seine Herkunft bekannt?

Geboren am 22. August 1928 als Sohn eines Volksschullehrers, zeigte der erstgeborene Karlheinz schon früh außergewöhnliche musikalische Begabung. Vater Simon Stockhausen (1899-1945) stammte aus dem Siegerland und war ab 1935 Oberlehrer in Altenberg. Seine Mutter Gertrud, eine geborene Stupp, war schwer depressiv. Sie versuchte vor den Augen des vierjährigen Sohnes aus dem Fenster zu springen und wurde 1933 dauerhaft in die Psychiatrie Galkhausen bei Opladen eingewiesen. Am 27. Mai 1941 wurde sie von den Nazis im Rahmen der Euthanasie-Verbrechen in der Tötungsanstalt Hadamar ermordet. Sie hinterließ drei Kinder.

Stockhausens Vater ließ sich nach ihrer Einweisung scheiden, heiratete wieder und trat in die NSDAP ein. Karlheinz hatte nun drei Stiefgeschwister und eine Stiefmutter namens Lucia. Trotz geringer finanzieller Mittel bekam der Sohn die Möglichkeit, Klavier zu lernen und wurde auf ein Internat geschickt. Später lernte er Oboe und war Mitglied eines Schulorchesters. Der autoritäre Vater glaubte an Heldentum und deutsche Ehre, verlangte von seinen Kindern bedingungslose Unterwerfung und wurde 1943 eingezogen, 1945 fiel er an der Ostfront.

Mit 17 Jahren musste Karlheinz Stockhausen als Vollwaise zurechtkommen. Luftangriffe und der Zwangseinsatz in einem Militärlazarett, wo er entstellte Soldaten pflegen und versorgen musste, traumatisierten den jungen Mann.

Was war die Grundlage für seinen Erfolg?

Kein Wunder, dass Stockhausen nie auf diese schreckliche Zeit zurückblicken wollte, sondern den Blick stets nach vorn richtete. „Furchtlos weiter“, so beschrieb er später sein Motto. Kurz nach dem Krieg spielte der Gymnasiast bereits in Bars und Nachtclubs als Pianist Jazz, Schlager und Karnevalsmusik, um über die Runden zu kommen. 1946 dirigierte er als Mitglied eines Theatervereins eine Operette. Nach dem Abitur 1947 am Gymnasium von Bergisch Gladbach studierte er an der Kölner Musikhochschule das Fach Schulmusik, welches er 1950 mit Auszeichnung abschloss. Zudem studierte er Klavier, Germanistik, Philosophie und Musikwissenschaft. Seine Examensarbeit verfasste er über ein Werk Béla Bartóks. Das Künstlerische begeisterte ihn – egal ob Musik, Literatur oder Theater. Bald lernte Stockhausen die „Neue Musik“ kennen, welche die Zwölfton-Technik von Arnold Schönberg entscheidend weiterentwickelte, und war elektrisiert. Das Komponieren brachte er sich weitgehend selbst bei. Unter dem Eindruck von Hermann Hesse, mit dem er in Austausch stand, verfasste er zudem literarische Schriften.

Der französische Komponist Olivier Messiaen hinterließ bei Stockhausen nachhaltigen Eindruck, als er in Paris dessen Kurse für Rhythmik und Ästhetik besuchte. Der junge Kerpener veröffentlichte bald erste Kompositionen, darunter 1951 „Kreuzspiel“ für Oboe, Bassklarinette, Klavier und drei Schlagzeuger. Die allzu moderne und atonale Melodik, Rhythmik und Gestaltung fiel beim Publikum 1952 in Darmstadt aber durch.

Wie gelang der Durchbruch?

In Paris lernte Stockhausen Komponisten der Neuen Musik wie Pierre Boulez oder Luigi Nono kennen. Die renommierten Künstler integrierten den jungen Deutschen in ihren Kreis. Bald darauf lud der Komponist und Musikkritiker Herbert Eimerts ihn zur Mitarbeit im Kölner Studio für elektronische Musik des WDR ein. Bis 1963 war er Mitarbeiter, dann bis 1977 Leiter des Studios. Seine Produktionen elektronischer Musik „Studie I“ (1953) und „Studie II“ (1954) erhielten Anerkennung. „Studie I“ war die weltweit erste Komposition mit Sinustönen – womöglich das Abstrakteste, was bis dahin komponiert worden war. Ein Werk für ein Tonband, ohne Musiker. Den zehnminütigen Sound hatte er aus einer Zahlenreihe abgeleitet: Tonhöhen, Rhythmen, Lautstärken, und Klangfarben waren mathematisch festgelegt. So wurde Stockhausen zu einem Begründer der „Elektronischen Musik“.

Bald folgten Werke wie „Gesang der Jünglinge“ und „Kontakte“. Oft bezog er den Raum als entscheidendes Element in seine Werke ein, etwa durch rotierende Lautsprecher, die die Töne gleichmäßig im Saal verteilten. Später feierte er große Erfolge mit Werken wie „Sirius“, „Oktophonie“ oder „Sternklang“. Spätestens ab den 1960er Jahren wurde er als einer der wichtigsten Komponisten Neuer Musik wahrgenommen.

1951 heiratete Stockhausen seine Kommilitonin Doris Andreae. Mit ihr hatte er vier Kinder. Das Paar lebte anfangs in einer kleinen Lindenthaler Wohnung, nach ein paar Jahren zog die sechsköpfige Familie nach Braunsfeld.

Gab es Widerstände?

Sein Wissen gab Stockhausen gerne weiter: Ab 1953 war er Dozent bei den internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt. Bald darauf erhielt er internationale Gastprofessuren. Der Künstler unterrichtete zudem von 1963 bis 1968 Komposition bei den „Kölner Kursen für Neue Musik“ an der Rheinischen Musikschule.

Aber auch als Pädagoge sorgte er für Aufsehen: Zwischen 1971 und 1977 leitete Stockhausen an der Kölner Musikhochschule seine eigene Kompositionsklasse, bestehend aus zwei Schülern. Aufgrund seiner hohen Fehlzeiten wurde er 1977 vom damaligen NRW-Wissenschaftsminister Johannes Rau fristlos entlassen.

1965 folgte die Scheidung von Ehefrau Doris, als Stockhausens Beziehung zur Künstlerin Mary Bauermeister begann. Er schlug anfangs vor, eine Beziehung zu dritt zu führen – Doris konnte dies auf Dauer jedoch nicht mittragen. Im gleichen Jahr zog Stockhausen in sein Landhaus nach Kürten. „Wenn ich dann hierhin komme, ist Frieden“, sagte er stets. Dort lebte er mit Mary Bauermeister, die er 1967 heiratete. Die Ehe, aus der eine Tochter und ein Sohn hervorgingen, scheiterte: 1972 kam es zur Trennung.

Was gab ihm Kraft? Welche Charaktereigenschaft stach hervor?

Stockhausen erschien gelegentlich weltfremd oder abgehoben. „Ich wurde auf Sirius ausgebildet, und dort will ich auch wieder hin, obwohl ich noch in Kürten bei Köln wohne“, bemerkte er einmal. Seine Genialität wurde eher von Musikern und Künstlern bewundert als vom durchschnittlichen Konzertgänger.

Der Kerpener war ein unermüdlicher, fast manisch erscheinender Komponist mit erstaunlichem Arbeitsethos. „Für mich ist jede Stunde eine Stunde der Arbeit“, sagte der Musiker, der angeblich täglich 16 Stunden der Musik widmete.

Dennoch liebte er das Leben, umgab sich gerne mit Menschen und Bewunderern. Sowohl in den Kölner Wohnungen als auch in Kürten fanden oft Hauskonzerte oder Partys statt. Dann wieder zog er sich zurück: Fastenperioden, Schlafentzug – sich selbst und anderen verlangte er viel ab.

Der religiös erzogene Stockhausen begann sich in den sechziger Jahren mit esoterischen und spirituellen Theorien zu beschäftigen, was durch Werke wie „Mantra“, „Sternklang“ und „Sirius“ hörbar wurde. Ein politischer Künstler war er jedoch nicht, er lehnte die 68er-Aktivisten ab: „Mein ganzes Leben ist Arbeit und ich bin ein Kind des Kriegs. Ich habe gelernt, nicht zu viel Aufmerksamkeit auf das zu verwenden, mit dem andere ihre Zeit verschwenden: auf die Straße gehen, Steine werfen.“

Was ist aus seinen Ideen geworden?

Ab den 1970er Jahren wurde Stockhausen zum Star, stand im Austausch mit John Lennon, Max Ernst oder Marc Chagall. Ausschnitte seiner Werke erschienen als „Greatest Hits“-Doppel-LP, das Magazin „Rolling Stone“ widmete ihm 1971 ein ausführliches Porträt.

Für die Expo 1970 in Osaka wurde nach seinen Plänen ein kugelförmiger Konzertsaal gebaut, in welchem das Publikum von allen Seiten elektroakustische Raumkompositionen live oder aus Lautsprechern erleben konnte. Nun war Stockhausen endgültig auf der Weltbühne angekommen.

Ab 1977 schuf Stockhausen sein spektakulärstes Werk – einen Musiktheater-Zyklus mit dem Titel „Licht, Die sieben Tage der Woche“. Bis 2005 dauerte die Komposition. Das Opus enthält religiöse, mythische und autobiografische Aspekte sowie Musik in Hubschraubern und ist mit einer Aufführungsdauer von 29 Stunden kaum umzusetzen. Es soll das universale Welttheater rund um die Fixpunkte Mann, Frau, Gut, Böse, Geburt, Tod anhand der sieben Wochentage darstellen und ist das längste zusammenhängende Werk der Musiktheatergeschichte. Für 2028 ist die erste Gesamtaufführung des „Licht“-Zyklus in Paris geplant, 2023 wurden bereits einzelne Tage des Werks dort aufgeführt.

Seit 1998 finden die Stockhausen-Kurse in Kürten mit Konzerten und Seminaren statt, an denen international anerkannte Musiker, Komponisten und Musikwissenschaftler mitwirken. Im gleichen Jahr veranstaltete die Universität zu Köln ein Stockhausen-Symposion. 2010 wurde das im Anschluss an „Licht“ begonnene Stück „Die 24 Stunden des Tages“ an verschiedenen Orten in Köln uraufgeführt.

Was bleibt von ihm?

Stockhausen starb am 5. Dezember 2007 in Kürten und wurde auf dem dortigen Waldfriedhof beigesetzt. In London, Lissabon, Bologna und Sydney wurde der Komponist mit Feierlichkeiten geehrt. Zu Lebzeiten wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse, der Ehrendoktorwürde der FU Berlin und dem Polar Music Prize ausgezeichnet. Viele Künstler berufen sich auf den Pionier: Die Can-Musiker Holger Czukay und Irmin Schmidt studierten bei Stockhausen, Jazz-Legende Miles Davis betonte, von ihm hätte er den Anstoß für die Strukturfreiheit seiner Musik bekommen.

Stockhausen hinterließ sechs Kinder, darunter die Musiker und Komponisten Markus und Simon Stockhausen. Markus arbeitete mehrfach mit seinem Vater zusammen, der für ihn Stücke schrieb.

Sein Weltbild formulierte Karlheinz Stockhausen folgendermaßen: „Dieser Planet ist eine Hilfsschule, ein erster Ansatz zur Vollkommenheit, ein Ahnen von einer besseren, schöneren Kunstwelt.“ Die Terroranschläge vom 11. September 2001 bezeichnete Stockhausen als „das größte Kunstwerk, das es je gegeben hat“ und löste weltweite Empörung aus. Eine ausführliche Entschuldigung und Erklärung reichte vielen nicht aus.

Die „Stockhausen-Stiftung für Musik“ mit Sitz in Kürten macht seit 30 Jahren sein musikalisches und geistiges Vermächtnis der Öffentlichkeit zugänglich.

Unter dem Titel „Der Mann, der vom Sirius kam“ ist zudem eine Graphic Novel von Thomas von Steinaecker und David von Bassewitz über Stockhausen erschienen.