Euskirchen/Köln – Er ist der beste Sportler, den der Kreis Euskirchen bisher hervorgebracht hat: Heinz „Flocke“ Flohe. Fußball-Weltmeister 1974, Double-Sieger mit dem 1. FC Köln im Jahr 1978. In Euskirchen ist Flohe auch knapp acht Jahre nach seinem Tod unvergessen.Sein Name steht in der Kreisstadt für eine fußballerische Glanzzeit, obwohl der größte sportliche Erfolg, der Aufstieg in die Oberliga, erst zehn Jahre nach Flohes Fast-Aufstieg gelingt. Dennoch schwebt der Geist unentwegt über das Erftstadion und vor allem über Flohes eigentlicher Wirkungsstätte, der Sportanlage im Auel. Die soll – so ist Wunsch der Euskirchener Politik – mal in Heinz-Flohe-Sportpark umbenannt werden.
Zeitreise: Geboren wird Flohe am 28. Januar 1948 in der Kölner Uniklinik. Aufgewachsen ist er in Euskirchen, seiner Heimatstadt. Dort hat sein Großvater ein Abschleppunternehmen samt Autowerkstatt. Und vielleicht entwickelt Flohe bereits dort, auf dem verwilderten Gelände rund um das Areal, seinen Hang zum Ungezähmten. Eine Eigenschaft, die ihn als Profifußballer ausmachen sollte. Dass in Euskirchen ein Rohdiamant, ein junges Genie, kicke, spricht sich schnell herum. Damals spielt der junge Flohe beim Euskirchener TSV. Die Fusion mit dem ESV zum ETSC erfolgt 1967.
Ex-Nationalspieler Jupp Röhrig schickt zwei Jahre zuvor eine Nachricht an den damaligen FC-Präsident, Franz Kremer. Röhrig hat Flohe in einem Jugendauswahl-Spiel gesehen und berichtet: „Von Flohe aus Euskirchen glaube ich sagen zu dürfen, dass er ein großes Talent ist.“ Flohe sei „ein hervorragender Dribbler. Manchmal übertreibt er es etwas. Alles in allem glaube ich, dass Flohe für unsere Lizenzspielerabteilung eine wertvolle Verstärkung wäre“.
Am 7. November 1965 debütiert Flocke in der DFB-Juniorenauswahl, die in Belgrad mit 0:1 gegen die Auswahl Jugoslawiens verlor. Kölns Trainer Willi Multhaup holt Flohe ein Jahr später zum Geißbockheim – der Rest ist FC-Geschichte. Unter Multhaup absolviert der Euskirchener sein erstes von 329 Spielen für den 1. FC Köln. 77 Treffer erzielt er in der Zeit. Und auch sein Spitzname wird in der Zeit geboren. FC-Masseur Micha nennt Flohe immer wieder Flocke. Manch einer sagt, der aus Jugoslawien stammende Masseur konnte Flohes Name nicht richtig aussprechen, andere führen es darauf zurück, dass Flohes Pässe so weich wie Schneeflocken ankommen.
Dass Flohe nach Köln wechselt, hat er einer Wette seines Vaters Peter zu verdanken. Der sitzt nach einem Spiel mit den Alten Herren des ETSV gegen den 1. FC Köln im Geißbockheim, an der Theke steht FC-Präsident Franz Kremer. Flohes Mannschaftskollegen einigen sich auf zehn Schnaps, würde es ihm gelingen, seinen Sohn noch am Abend beim FC unterzubringen. Flohe Senior zögert nicht, geht zum Tresen und will gerade mit Präsident Kremer einen verbalen Doppelpass spielen, da macht dieser schon Nägel mit Köpfen. „Ihr Sohn ist uns bekannt. Wir hätten ihn gern beim 1. FC Köln“, sagt Kremer und Flohe Senior hat seine zehn Schnaps sicher.
Das sagen Heynckes, Beckenbauer und Overath
„Er war ein Artist“, sagt Jupp Heynckes, einer der vielen prominenten Zeitzeugen. Für Günter Netzer „hat es bei uns in Deutschland keinen gegeben, der diese technischen Fähigkeiten gehabt hat“.
Für Franz Beckenbauer gehörte er „zu den besten Technikern der Welt“.
Und Wolfgang Overath, sein damaliger kongenialer Partner im Mittelfeld, spricht noch heute vom „Brasilianer Flohe“, der mit dem FC 1978 Meister und Pokalsieger wurde und noch zwei weitere Male den Pokal in die Höhe stemmen durfte.
Flohe Junior spielt sich in der Folgezeit in die Herzen der FC-Fans, die ihm nach seinem Tod sogar ein Denkmal vor dem Rhein-Energie-Stadion bauen – nicht nur, weil er erheblichen Anteil an der Meisterschaft und dem DFB-Pokalsieg im Jahr 1978 hatte. Zu diesem Zeitpunkt ist Flohe auf dem Höhepunkt seines Könnens. Seine Mitspieler haben ihn vor der Saison sogar zum Kapitän gewählt.
Er ist damit in jeder Hinsicht Wolfgang Overaths Nachfolger, den Hennes Weisweiler demontiert hatte – ein Schicksal, das auch Flohe noch ereilen wird, doch dazu später mehr. In allen Spielen in Liga und Pokal ist er im Jahr 1978 Kapitän, erzielt 14 Saisontore. Zwei davon beim 5:0 über den FC St. Pauli im epischen Fernduell mit Borussia Mönchengladbach, das parallel Borussia Dortmund mit 12:0 besiegt. Die Bilder von Flohe, der auf dem Rathausbalkon den DFB-Pokal auf dem Kopf trägt, sind ein Stück FC-Geschichte.
Overaths Nachfolger
Vier Jahre zuvor, bei der WM, absolviert Flocke im Finale (2:1 gegen die Niederlande) keine Minute – aus heutiger Sicht gelinde gesagt verwunderlich. Die WM 1974 gilt aus Kölner Sicht als das Turnier Wolfgang Overaths, und tatsächlich ist der Kölner damals der größte Regisseur des Planeten. Doch es ist Flohe, der Dinge mit Ball und Gegner anstellt, die kein Mensch je gesehen hat – eben der, der mit dem Ball tanzt. Sein Repertoire ist so unerschöpflich wie sein Improvisationstalent. Und obwohl er torgefährlich ist, liegt ihm stets viel daran, den Mitspieler einzusetzen. Nerven kannte Flohe zu seiner aktiven Zeit übrigens nie: In 14 Jahren als Profi vergibt er nie einen Elfmeter. Selbst im EM-Finale 1976 trifft er vom Punkt. In Erinnerung jedoch bleibt Uli Hoeneß' Fehlschuss in den Himmel von Belgrad. Nicht wenige sagen, dass man den Ball immer noch suche.
Mitglied des FC Johnny
Flohe ist einer, der gern in Gesellschaft ist, jedoch ungern im Mittelpunkt steht. Kameras sind ihm ein Graus – selten gibt er Interviews. Stattdessen ist Flohe ein gern gesehener Gast in der zwielichtigen Kölner Kultkneipe „Klein Köln“ an der Friesenstraße – die Geburtsstätte des „FC Johnny“.
In der Fußballhobbymannschaft des Kölner Milieus läuft Flohe sogar in grünen Trikots auf, weil ihm nichts über das gesellige Miteinander geht. Einer der besten deutschen Spieler seiner Zeit auf einem Acker mit einem Haufen Hobbykicker aus der Kölner Halbwelt. Eigentlich unvorstellbar, doch für Box-Fan Flohe einfach nur ein schöner Nachmittag mit Leuten, die er mag.
Was Flohe nicht mag sind Niederlagen. Eine persönlich folgenschwere Pleite ist das 0:6 beim Hamburger SV. Flohe sieht die Rote Karte, auf der Rückfahrt entscheiden Präsident Peter Weiand und Trainer Weisweiler, Flohe abzugeben. In den vier verbleibenden Saisonspielen steht Flohe nicht mehr im Kader. Es folgt der Abschied.
1860 München sichert sich die Dienste des Superstars aus Köln. Am 1. Dezember 1979 dann das tragische Ende einer Weltkarriere. 1860 spielt gegen den MSV Duisburg. Paul Steiner, ein junger Verteidiger, foult Flohe, tritt ihm das Schien- und Wadenbein durch. Karriere-Ende. Mit 31. Flohe hat Steiner Zeit seines Lebens Absicht unterstellt und deswegen sogar einen Prozess gegen ihn geführt. Doch das Gericht verneint einen Vorsatz. Die Geschichte nimmt einen absurden Verlauf: Anderthalb Jahre nach dem Schicksalsspiel verpflichtet der Geißbock-Verein Verteidiger Steiner, der anschließend eine lange Karriere in Köln erlebt, obwohl ihm viele FC-Fans nie verzeihen konnten, dass er den Doublekapitän zum Invaliden getreten hatte. Nach Informationen dieser Zeitung verbringen Flohe und Steiner sehr wenig Zeit miteinander im selben Raum.
„Nie so viele Beinschüsse bekommen“
Dafür verbringt Flohe viel Zeit in Euskirchen. Sein Sohn Nino tritt in seine Fußstapfen, wird ebenfalls Fußballer. Zum Profi reicht es für Nino Flohe nicht, die Liebe zum ETSC ist aber auch ihm in die Wiege gelegt. Als Trainer führt er den ETSC nach schwierigen Zeiten in die Mittelrheinliga zurück. Sein Vater trainiert zehn Jahre die Kreisstädter. 1988 kratzt er am Aufstieg in die Oberliga. Letztlich scheitert der ETSC an Alemannia Aachen. Die ETSC-Mannschaft von damals hat heute in der Kreisstadt Kultstatus: Torwart Stefan Beyers, der junge Werner Regh, Mike Paul oder auch Jürgen Schmidt – Namen, die wohl immer mit den Glanzzeiten des ETSC verbunden bleiben. „Heinz Flohe war ein harter, aber fairer Trainer“, erinnert sich Beyers: „Er hat immer auf die Jugendspieler gebaut und sie gefördert.“ So viele Beinschüsse beim Torwarttraining habe er von niemanden erhalten. Flohes Lieblingsspruch sei gewesen: „Wer mehr läuft und mehr Zweikämpfe gewinnt, gewinnt auch das Spiel.“
Auch der Euskirchener Christian Schaffrath hat unter Flohe trainiert. „Heinz Flohe war für mich als Trainer, als mein Kollege im Vorstand vom ETSC und nicht zuletzt als väterlicher Freund, ein unglaublich prägender Mensch“, sagt er: „An ihm habe ich insbesondere seine ehrliche und direkte Art geschätzt, als auch die Tatsache, trotz großer Erfolge auf dem Teppich geblieben zu sein.“
1991 geht Flohe zurück zum 1. FC Köln. Alte Liebe rostet nicht. Er wird Co-Trainer von Stephan Engels bei den Amateuren der U23. 1995/96 übernahmen Engels und Flohe zwischenzeitlich sogar die Profis. Die Ergebnisse sind durchwachsen, am Ende muss der ewige „Feuerwehrmann“ Peter Neururer die Rettung besorgen.
Flohe blieb seiner Heimatstadt treu, verfolgt die Spiele seines ETSC, geht gerne zum Ringen. Und ist Mitglied des WM-Stammtischs dieser Zeitung beim Sommermärchen 2006. Nach einem seiner wenigen öffentlichen Auftritte erleidet er im Mai 2010 einen Zusammenbruch, von dem er sich nicht mehr erholt. Eine weitere FC-Legende, Lukas Podolski, erinnert sich bei der Flohe-Filmpremiere „Der mit dem Ball tanzt“: „Er hat den FC geprägt wie kaum ein anderer“. Und am Ende des Films ist es an Podolski, an den Abend zu erinnern, als Flohe in Köln auf offener Straße zusammenbricht. „Wir waren vorher zusammen bei der Eröffnung von Felix Sturms Boxhalle“, sagt Podolski. Man habe natürlich über den FC gesprochen. „Wie man das halt so macht.“ Dann habe Flohe ihm alles Gute für die Karriere gewünscht. Poldi wünscht ihm auch alles Gute. Doch kurz danach folgt der Zusammenbruch, Flohe wird wochenlang im Herzzentrum der Kölner Uniklinik behandelt und ins künstliche Koma versetzt.
Medien, Fans und Weggefährten nehmen großen Anteil am Schicksal des ehemaligen FC-Kapitäns. Im Februar 2011 gründen die FC-Altinternationalen einen Hilfsfonds für ihren ehemaligen Mitspieler, und am 18. Mai 2012 wird ein Ehrenspiel für Flocke ausgetragen. Ein Jahr später, am Abend des 15. Juni 2013, stirbt Heinz Flohe.