Nach 50 Jahren Amtszeit geht Protokollführer Dieter Mertens in den Ruhestand.
Am Tag des Amoklaufs von Erwin Mikolajczyk hätte er eigentlich arbeiten müssen, lag aber wegen eines Handbruchs im Krankenhaus.
Euskirchen – Eine Operation an der Hand habe ihm möglicherweise das Leben gerettet, sagt Dieter Mertens. Die lange Narbe auf dem Handrücken werde ihn immer an den 9. März 1994 erinnern. Es war ein Mittwoch. An diesem Tag starben in einem Nebengebäude des Euskirchener Amtsgerichts sieben Menschen. Erwin Mikolajczyk hatte zunächst mehrere Menschen erschossen und zündete anschließend im Gerichtssaal eine selbstgebaute Bombe.
Eigentlich habe er bei der Verhandlung Protokoll führen sollen, erinnert sich Mertens. Am Freitag zuvor sei er dazu eingeteilt worden, doch am Samstag habe er dann beim Alt-Herren-Spiel seines SV RW Queckenberg gegen den VfL Rheinbach im Tor gestanden und sich einen doppelten Mittelhandbruch zugezogen. Am Mittwoch, 9. März 1994, lag er dann im OP, bekam von den Ärzten seine Knochen gerichtet.
Vom Anschlag aufs Euskirchener Amtsgericht erfuhr er von seiner Frau Monika. „Das war ein Schock“, sagte der 64-Jährige am Freitag im Gespräch mit dieser Zeitung.
Genau wie der Mittwoch vor gut sechsundzwanzigeinhalb Jahren wird Mertens auch den 16. Oktober 2020 nicht vergessen. Es war sein letzter Arbeitstag. Nach mehr als 50 Jahren als hauptamtlicher Protokollführer beim Amtsgericht Euskirchen ist für Mertens nun Schluss. 1969, Mertens war damals erst 14 Jahre alt, hatte er seine Ausbildung zum Justizangestellten in Euskirchen begonnen. Mehr als 2600 Wochen später endet dieser Lebensabschnitt für den leidenschaftlichen Fan des FC Bayern München. „In der Zeit habe ich bestimmt 30 000 Angeklagte erlebt und in 8000 Gerichtsverhandlungen Protokoll geführt“, berichtet der 64-Jährige.
Auch bei der letzten Strafsache, bei der er unter dem Vorsitz von Richterin Johanna Wieland Protokoll führte, blieb sich Mertens treu. Statt Tastatur und Computerbildschirm setzte der Justizangestellte auf Stift und Papier. In all den Jahren am Euskirchener Amtsgericht ist Mertens nie anders seiner Arbeit nachgegangen. „Ich habe immer Steno geschrieben. Selbst als Computer Einzug gehalten haben, haben sie mich machen lassen“, sagt Mertens schmunzelnd. Technische Dinge seien nicht so sein Ding: „Die elektronische Akte muss sein. Das ist der Fortschritt, aber bitte ohne mich.“
Mit dem Ausscheiden von Mertens ende eine Ära, sagt Petra Strothmann-Schiprowski, die Direktorin des Euskirchener Amtsgerichts: „Er war der letzte Protokollführer, der noch Steno geschrieben hat.“ Mit ihm gehe nicht nur ein Urgestein, sondern auch die gute Seele des Amtsgerichts in den Ruhestand. „Sein Erfahrungsschatz ist sehr sehr groß. Schade, dass er uns verloren geht.“
Immer am Euskirchener Amtsgericht
Abgesehen von monatsweisen Abordnungen nach Rheinbach war Mertens immer am Euskirchener Amtsgericht tätig – und fand dort auch die Liebe seines Lebens. Er sei damals aufgrund eines Termins zeitgleich mit Monika Mertens, die den Namen praktischerweise bei der Hochzeit nicht ändern musste, beim Grundbuchamt gewesen. „Wir waren nicht verwandt oder verschwägert. Das war Zufall. Ein schöner Zufall“, so Dieter Mertens, dessen Sohn Lehrer am St.-Michael-Gymnasium in Bad Münstereifel ist. Einen Plan für den Ruhestand hat der 64-Jährige, der am kommenden Dienstag seinen 65. Geburtstag feiert, noch nicht. „Ich werde sicherlich mal wieder ein Buch lesen und ein bisschen aufräumen. Was sonst noch so kommt, wird sich zeigen. Ich bin da entspannt und werde die Zeit schon rum kriegen“, sagt er.
Sicherlich gebe es zwei, drei Prozesse, die ihm ganz besonders in Erinnerung geblieben seien. Darüber reden wolle er aber nicht. „Nur so viel ...“, sagt er, „... es war immer etwas mit kleinen Kindern.“
Über eine besondere Begegnung innerhalb der vergangenen 50 Jahre spricht er hingegen gerne. „Ich habe den Pausenhof in der Justizvollzugsanstalt Rheinbach mit Günter Guillaume geteilt“, so Mertens. Guillaume wurde am 24. April 1974 als Referent und damit als einer der engsten Vertrauten von Bundeskanzler Willy Brandt, verhaftet. Der damals 42-Jährige war als DDR-Spitzel überführt worden und verbrachte einige Zeit im Rheinbacher Gefängnis. „Ich war damals zum Fußball spielen in Rheinbach. Da habe ich den Guillaume gesehen“, so Mertens. 1981 wurde der Stasi-Spion, dessen Auffliegen auch zu Brandts Rücktritt beitrug, schließlich an der Glienicker Brücke, die Berlin und Potsdam verbindet, ausgetauscht.
Aus dem Zuschauerbereich verfolgten am Freitag zahlreiche Amtsgerichtsmitarbeiter die letzte Verhandlung von Dieter Mertens. „Ich habe mir so etwas gedacht, dass sie dann aber auch wirklich kommen, ist einfach toll“, sagte er sichtlich gerührt und packte anschließend ein letztes Mal seinen Stift, seine Steno-Blätter und eine alte Zeitungsseite ein. Die Zeitungsseite hat das Datum 10. März 1994. „Ich hatte sie in all den Jahren stets dabei – ähnlich wie die Narbe. Beides wird mich immer an das Attentat erinnern“, so Mertens.