Maria-Christina Nimmerfroh ist Sozialpsychologin und lehrt an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. Mit Miriam Hafki sprach sie über die H-BRS und ihre Forschung zur „Letzten Generation“, bei denen sie sich „undercover“ eingeschleust hat.
Interview mit Dozentin Maria-Christina NimmerfrohHochschule Bonn-Rhein-Sieg „stark in Region verankert“
Sie sind Sozialpsychologin und arbeiten an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. Was genau lehren Sie dort?
Ich leite hier die Spezialisierung Wirtschaftspsychologie, das ist ein Schwerpunktfach für Studierende der Betriebswirtschaft. Also die Schnittmenge zwischen wirtschaftlichem und betriebswirtschaftlichem Handeln und der Psychologie.
Wo liegen die Schwerpunkte Ihrer Arbeit?
Ich forsche schon seit vielen Jahren zu Non-Profit-Organisationen, das beinhaltet im Wesentlichen die Wirkung auf Gesellschaft und Unternehmen. Also das Marketing, die innere Struktur, die Zusammenarbeit zwischen Haupt- und Ehrenamtlern im zivilgesellschaftlichen Engagement. Auch die Veränderung in der inhaltlichen Ausrichtung. Diese Aspekte schaue ich mir von verschiedenen Organisationen im gesellschaftlichen Spektrum an. Seit ungefähr vier, fünf Jahren sind dabei die Social Movements mit Fridays for Future, Extinction Rebellion und anderen im Schwerpunkt.
Wie sind Sie an die H-BRS gekommen?
Ich habe Psychologie studiert, ganz grundständig, an der Goethe-Universität in Frankfurt. Dann bin ich relativ schnell an die Hochschule Bonn-Rhein-Sieg gekommen und habe hier meinen Schwerpunkt in der Lehre gehabt. Den Studiengang Wirtschaftspsychologie habe ich an der H-BRS mitaufgebaut und so die beiden Schwerpunktfächer gegründet: Finanz- und Marktpsychologie und Wirtschaftspsychologie.
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Seit wann sind die an der Hochschule?
Ich bin seit 2008 Lehrbeauftragte und wissenschaftliche Mitarbeiterin seit 2013.
Wie sehen Sie die Entwicklung der Hochschule seitdem Sie hier angefangen haben?
Die Hochschule erlebe ich als sehr stark in der Region verankert. Ein großer Teil der Studierenden, gerade im Bereich der Betriebswirtschaft, kommt hier aus der Region. Manche haben auch hier in der Gegend vor ihrem Studium eine Ausbildung gemacht. Wir haben sehr viele Studierenden, die schon berufliche Erfahrungen mitbringen, eben in Form eine Ausbildung. Das ist besonders spannend in der Zusammenarbeit, weil sie natürlich schon ein bisschen Lebenserfahrung mitbringen und gerade psychologische Themen aus ihrem betrieblichen Kontext nochmal anders betrachten.
Inwiefern anders?
Weil sie schon geführten Erfahrung haben, und sie haben die Erfahrung mit einem Arbeitsablauf, der sich vom Studierendenalltag extrem unterscheidet. Sie haben auch selbst schon in Teams gearbeitet die sich mochten – oder nicht mochten. Außerdem haben sie schon Erfahrung mit Motivation.
Was gefällt Ihnen an der Hochschule und Ihrer Arbeit besonders?
Die Freiheit und Lehre: Ich erlebe hier an der Hochschule eine Freiheit der Forschung. Ich habe das auch mit meinem aktuellen Forschungsthema der Letzten Generation gesehen. Meine Ergebnisse werden zum Teil in der Öffentlichkeit kritisch wahrgenommen, ich werde aber von der Hochschule in keiner Weise beeinflusst. Ich bin in meiner inhaltlichen und methodischen Arbeit frei – das ist etwas, was mir viel Freude macht. Gerade als Sozialpsychologin kratzt man auch mal an Trendthemen und kriegt vielleicht auch was raus, wo nicht alle begeistert sind. Da erlebe ich eine wirklich extrem respektvolle, forschungsorientierte Atmosphäre.
Das zweite ist die Arbeit mit den Studierenden. Wir haben hier die Möglichkeit, gerade in den Schwerpunktfächern, mit kleineren Gruppen zu arbeiten und diese intensiv kennenzulernen. Ein Kollege von mir hat mal gesagt: Wir haben den tollsten Job, den man sich vorstellen kann. Wir begleiten junge Menschen auf dem Weg in den Beruf, den sie sich selber ausgesucht haben. Das nehme ich als sehr positiv wahr.
Eigentlich haben Sie Ihr Büro in Rheinbach, aber seit der Flut vor zwei Jahren sind Sie nicht mehr da…
Genau, wir haben zwei große Fachbereiche in Rheinbach, einmal die angewandten Naturwissenschaften und die Wirtschaftswissenschaften. Erstere haben mittlerweile einen Teil ihrer Räumlichkeiten wieder beziehen können. Die Wirtschaftswissenschaften sind aber noch nicht wieder da angekommen, weil die Gebäude einfach nicht nutzbar sind. Es dauert alles länger, als es sich viele sicherlich vorgestellt haben. Es wird auch noch mindestens ein Jahr dauern, bis wirklich alle Bereiche wieder nutzbar sind.
Das heißt für die Lehrenden, dass uns Ausweichquartiere angeboten wurden. Aber die meisten haben sich stattdessen für eine Arbeit im Home Office entschieden. Die Rheinbacher Studierenden müssen im Moment nach Sankt Augustin fahren, dort haben wir dank der Steyler Missionare auch sehr schöne Räumlichkeiten bekommen. Für die Studierenden ist das aber durchaus schwierig, weil sie kein richtiges Campusleben haben. Es wird wahrscheinlich einige gebe, die den Campus noch nie gesehen haben, aber eigentlich in Rheinbach studieren, was sehr schade ist.
Sie beschäftigen sich bereits seit vielen Jahren mit Non-Profit-Organisationen und der Wirkung solcher Organisationen auf die Gesellschaft. Nun haben Sie sich intensiv mit der Letzten Generation befasst… Wie sind Sie darauf gekommen, gerade die Organisation zu untersuchen?
Auslöser ist sicher die enorme und stark ansteigende Bekanntheit, die letzten Sommer stattgefunden hat. Mit ihrer Protestform haben sie andere Organisationen – und das war für mich faszinierend –in diesem Bereich in der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt. Damit war das auch für mich ein Thema. Zunächst habe ich mich über die Medienrezeptionen damit beschäftigt und habe geguckt, wie die Letzte Generation in der Öffentlichkeit und in Sozialen Medien wahrgenommen wird.
Um die Bewegung näher zu untersuchen haben Sie die Letzte Generation „undercover“ untersucht…
Ich wurde als Expertin häufig gefragt, wieso die Letzte Generation so handelt und wie sie auf diese außergewöhnlichen Protestformen kommen. Im Zuge dessen habe ich mir gesagt, dass ich tiefer forschen muss, um diese Fragen zu beantworten. So habe ich mich im November entschlossen, daraus meinen zentralen Forschungsschwerpunkt zu machen.
Das, was ich dann gemacht habe, nennt sich „verdeckte Beobachtung im Feld“, das klingt bombastischer als es ist. In der Sozial- und Marktpsychologie machen wir das auch gar nicht selten. So habe ich im Dezember an einem Protesttraining der Letzten Generation teilgenommen und habe danach die Möglichkeit bekommen, die Schulungsunterlagen zu analysieren. In Folge dessen, als ich in einem Interview von meinen Erfahrungen berichtet habe, kamen Mitglieder der Letzten Generation mit Dokumenten auf mich zu – die einen um meine Ergebnisse zu widerlegen, die anderen um sie zu verifizieren. Auf diese Weise konnte und kann ich deutlich mehr und kontinuierlich über die Organisation erfahren, als es „nur“ mit meinem Besuch des Protesttrainings möglich gewesen wäre.
Was waren Ihre Erfahrungen bei dem Protesttraining?
Zwei Sachen sind mit direkt aufgefallen: Zum einen der sehr positive und wertschätzende Umgang miteinander und die Integration von Menschen, die neu dazukommen. Zum anderen stehen die normbrechenden Aktionsformen, die im Mittelpunkt der Tätigkeit stehen, auch im Fokus der Trainings. Ich fand es sehr ungewöhnlich, dass man davon ausgeht, dass Personen, die gerade erst neu dazugekommen sind, auch bereit sind, die ganze Bandbreite der Taten – die zum Teil auch juristische Konsequenzen haben – mitzumachen. Die Gruppennorm ist also, das alles zu tun. Darauf wird schon sehr direkt und nach wenigen Minuten hingearbeitet.
Wie wird das gemacht?
Es wird ein Text vorgelesen, mit dessen Hilfe man sich in die Lage versetzen soll, auf der Straße zu sitzen, zu blockieren und schließlich von der Polizei weggetragen zu werden, das wird alles sehr ausführlich und detailliert geschildert, mit allen Bewegungen und Empfindungen. Anschließend müssen alle in Kleingruppen Fragen dazu beantworten. Dabei wird nicht etwa gefragt, ob ich das machen würde, sondern es wird gefragt: Was hält dich davon ab, es zu tun? Das ist das Umdrehen der Gruppennorm, also psychologisch eine völlig andere Wirkung, als wenn ich ergebnisoffen diskutiere. Das hat mich überrascht.
Was haben Sie für einen Eindruck von der Gruppe?
Alles, was die Letzte Generation macht, steht unter zwei wichtigen Zielen: Möglichst viel Störung und möglichst viel Aufmerksamkeit. Der größte Unterschied zu anderen Organisationen wie Fridays for Future ist sicherlich, dass das Brechen von Normen Teil der geplanten Aktionsform ist. Sie setzt das als Teil des Marketings ein. Des Weiteren haben sie einen extremen Fokus auf die öffentliche Wahrnehmung.
Es findet auch ein extremes Freund-Feind-Denken statt. Psychologisch ist das einzuordnen als linkspopulistischer Autoritarismus, also: Wir haben die richtige Sicht auf die Welt und alle anderen nicht.
Und wie könnte sich das in Zukunft entwickeln?
Wenn das Wechselspiel der Öffentlichkeit mit der Organisation nicht mehr funktioniert und gleichzeitig weniger Menschen bereit sind, bei der Letzten Generation mitzumachen, wird sie immer kleiner werden. Sie schrumpft bereits, aktuell gibt es rund 100 Personen, die sich aktiv bei der Letzten Generation beteiligen. Die Gruppe ist selbst für ihre eigene Zielgruppe nicht attraktiv: Die Mobilisierungsstrategien sind gescheitert. Wahrscheinlich werden die Aktionen dann weniger, oder spitzen sich zu. Es wird vermutlich auch Ermüdungseffekte geben, sowohl in der Bevölkerung als auch medial. Dann spielt womöglich die Störung von Großereignissen stärker eine Rolle. Die Letzte Generation möchte übrigens jetzt eine Ü-50-Gruppe gründen – das ist kein Witz. Manches, was ich von ihrer internen Kommunikation mitbekomme, wirkt durchaus etwas skurril: die Gründung einer Ü-50-Gruppe gehört auch dazu.
Wird die Letzte Generation auch in Zukunft Teil ihrer Forschung sein?
Ich führe meine Forschung zur Letzten Generation weiter fort, aber das hängt auch von der Entwicklung der Organisation ab. Vielleicht gibt es in einem Jahr eine andere Gruppe, die ähnlich bekannt und wichtig ist. Es stehen auch Publikationen aus, die hier an der Hochschule erscheinen werden.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft Ihrer Arbeit an der Hochschule?
Ich wünsche mir ein größeres Team, um gerade die gesellschaftliche Wechselwirkung zwischen Unternehmen und der Bevölkerung stärker in den Blick zu nehmen. Ich glaube, dass sich die Sicht auf Unternehmen stark verändert - und auch andersherum. Dazu würde ich gerne mehr forschen, insbesondere was das werteorientierte Handeln angeht. Der Klimaschutz hat einen neuen Wert im unternehmerischen Handeln als Auftrag gegeben und die Unternehmen nehmen das zum Großteil sehr ernst. Außerdem wünsche ich mir Studierende, die mir widersprechen (lacht). Das ist manchmal in meiner Position schwierig. Mit der großen Erfahrung und mit dem Forschungshintergrund habe ich teilweise den Eindruck, dass sich die Studierenden nicht richtig trauen zu sagen, wenn sie etwas anders sehen. Gerade das würde aber meine Arbeit extrem anreichern, wenn wir mehr Diskurs haben würden.