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Prozess um Säure-Attentat: „Ein fürchterlicher Vorgang”

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Wuppertal – Aufmerksam mustert der Mann im dunkelblauen Anzug den Mann in der schwarzen Trainingsjacke, der ihm gegenüber sitzt. Im März 2018 fand in Haan bei Düsseldorf ein Verbrechen statt, das international für Aufmerksamkeit sorgte. Der Energiemanager Bernhard Günther wurde unweit seines Hauses angegriffen und mit Säure übergossen. Make-up verdeckt bei ihm am Freitag die Folgen des Geschehens, um das es in Saal 147 des Wuppertaler Landgerichts geht.

Zum Prozessbeginn ist Günther (55) als Nebenkläger gekommen. Der Mann auf der Anklagebank ist ein 42-jähriger Belgier. Der Prozess beginnt mit Appellen an ihn, doch noch ein Geständnis abzulegen. Der Vorsitzende Richter Holger Jung sagt, die Aktenlage spreche „mit hoher Wahrscheinlichkeit für einen Schuldspruch”. Er empfehle ihm dringend, sein Schweigen zum Tatvorwurf zu überdenken. Ein Geständnis könne ihm „einige Jahre” Haft ersparen.

Günthers Nebenklageanwalt Martin Meinberg stößt ins gleiche Horn: „Wir würden es sehr begrüßen, wenn Sie sich dazu durchringen könnten, an der Gesamtaufklärung mitzuwirken. Das war ein ganz fürchterlicher Vorgang, der sich so in der deutschen Wirtschaft noch nicht abgespielt hat.”

Wenn der Angeklagte „Ross und Reiter” nenne, wäre das „ein Stück moralische und persönliche Wiedergutmachung”. Der Verteidiger signalisiert knapp, die Sache nochmal mit dem Angeklagten zu besprechen.

Tatort-Fotos werden präsentiert: Brötchen liegen verstreut auf einem Fußweg herum, etwas weiter liegt ein Konservenglas mit einem übergestülpten Einweghandschuh. Er spielt eine entscheidende Rolle. Die Polizei fotografiert auch eine Joggingjacke, die im Halsbereich völlig säurezerfressen ist.

Günther war damals Finanzvorstand der RWE-Tochter Innogy. Er wurde am 4. März 2018 in einer Grünanlage abgepasst und von hinten angegriffen, 200 Meter von seiner Haustür entfernt. Die Täter verwendeten konzentrierte Schwefelsäure, wie sie in Autobatterien verwendet wird. Günther wurde mit schweren Verätzungen in eine Spezialklinik gebracht, er schwebte zeitweise in Lebensgefahr.

„Das ist ein wichtiger Tag für meine Familie und für mich, allerdings auch kein einfacher Tag”, sagt der 55-Jährige unmittelbar vor Prozessbeginn. Er hoffe auf Gerechtigkeit, auf die Aufklärung des Falles. Das Attentat habe äußerlich und innerlich viele Spuren hinterlassen.

„Der Körper fühlt sich fremd an”, sagte der 55-Jährige. Seine Augenlider seien vernarbt. „Das spüre ich jeden Morgen beim Aufwachen, dass die Welt nicht mehr so ist, wie sie vor dem Anschlag war.”

Der Angeklagte schweigt am Freitag zwar weiter zur Tat, gibt aber zu seinem Vorleben bereitwillig Auskunft: Er habe vier Geschwister, nach dem Schulabschluss habe er als Automechaniker gearbeitet, auch hin und wieder Autos „schwarz” repariert und mehrfach Unternehmen gegründet. Er liebt und sammelt exotische Vögel, verrät er. Fotos zeigen ihn mit einem Papagei auf der Schulter.

Er sei häufig in Deutschland gewesen, oft für Bordellbesuche, sei privat mit ehemaligen Prostituierten befreundet. Die Staatsanwaltschaft deutet an, dass er in einem der Etablissements Mittäter des Anschlags kennengelernt haben dürfte.

Als Vorstrafen listet der Richter lediglich eine Reihe Verkehrsdelikte aus dem belgischen Strafregister auf. Der Mann war im vergangenen Dezember in der belgischen Provinz Limburg festgenommen worden, nachdem ein DNA-Abgleich einen Volltreffer ausgeworfen hatte.

Der DNA-Sachverständige des Landeskriminalamts berichtet, dass er die Fingerkuppen des am Tatort entdeckten Handschuhs abgeschnitten hat, um das Innere zu untersuchen. Beweisstatistisch sei die dabei entdeckte DNA-Spur mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu weit über 30 Milliarden vom Angeklagten, sagt er.

Den Einwand des Verteidigers, die Spur könne doch auch von außen an den Handschuh gekommen sein, kontert er: „Für mich ist das eindeutig eine Tragespur, keine Griffkontaktspur.”

Schon zwei Jahre vor dem Säureanschlag war Günther von Unbekannten überfallen und zusammengeschlagen worden. Günther vermutet den Auftraggeber für beide Überfälle in seinem beruflichen Umfeld. Den Namen hat er bislang nicht genannt.

Die Ermittlungen waren schon eingestellt worden, als der Manager Privatermittler beauftragte. Günthers damaliges Unternehmen Innogy hatte zudem 100 000 Euro Belohnung für Hinweise zur Aufklärung des Falls ausgesetzt. „Mein Mandant wird nicht ruhen, bis die Mittelsmänner und der eigentliche Auftraggeber eines Tages selbst vor Gericht stehen”, kündigt Meinberg an.

Wenige Tage nach dem Überfall war bekannt geworden, dass die RWE-Tochter Innogy zerschlagen und Teile vom Konkurrenten Eon übernommen werden sollten. Dem Angeklagten drohen im Fall einer Verurteilung zwischen 3 und 15 Jahren Haft wegen absichtlicher schwerer Körperverletzung. Das Gericht hat für den Fall bis Ende August acht Verhandlungstage angesetzt.

© dpa-infocom, dpa:220623-99-774560/4 (dpa)