London – Nicht sprunggewaltig genug, auch mal mit Flutschfingern und im Gedränge bei Flanken überfordert - so lauteten über Jahrzehnte oft die Urteile über die Torfrauen.
Michael Fuchs ärgert es mächtig, wenn so etwas noch aufkommt. „Da geht gleich immer so ein Raunen durchs Stadion”, sagt der langjährige Torwarttrainer des DFB-Teams. „Und es heißt, die können nicht Fußball spielen. Ich glaube, das kann man heute nicht mehr sagen.” Bestes Beispiel bei der Europameisterschaft in England: Merle Frohms - die deutsche Nummer 1 hat vor dem Viertelfinale gegen Österreich am Donnerstag (21.00 Uhr/ARD und DAZN) noch keinmal den Ball aus dem Netz holen müssen.
Frohms verdrängt Schult - mit starkem Fuß und Ruhe
Längst hat die 27-Jährige Olympiasiegerin Almuth Schult verdrängt - und ist auf dem besten Weg, in die Fußstapfen von prägenden Figuren wie Nadine Angerer oder Silke Rottenberg zu treten. Angerer schaffte beim WM-Triumph 2007 in China ein ganz besonderes Kunststück, als sie das gesamte Turnier über ohne Gegentor blieb und im Finale beim 2:0 gegen Brasilien einen Elfmeter der sechsmaligen Weltfußballerin Marta hielt.
Die feingliedrige und sprunggewaltige Frohms verkörpert einen ganz anderen Typ als viele Torhüterinnen auf der internationalen Bühne. Kapitänin Alexandra Popp kennt sie schon seit der gemeinsamen Anfangszeit beim VfL Wolfsburg, wohin die Keeperin nach diesem Turnier zurückkehrt. „Da muss man schon sagen, dass sie sich in den zehn Jahren brutal entwickelt hat”, sagt Popp. „Sie hatte es immer echt schwer, weil sie eine Almuth vor sich hatte. Aber mit dem Fuß war sie schon immer extrem stark. Und die Ruhe, die sie ausstrahlt, tut der Mannschaft auch extrem gut.”
Seit 2019, als sich Schult an der Schulter operieren ließ und ein Jahr später dann Mutter von Zwillingen wurde, ist Frohms Stammkeeperin bei Martina Voss-Tecklenburg. An diesem Status hielt die Bundestrainerin vor der EM konsequent fest.
Schult hätte natürlich „unglaublich gern gespielt. Es wäre auch etwas Besonderes gewesen, überhaupt als Mama mal wieder ein Länderspiel zu machen, weil das immer das große Ziel war”. Doch Frohms lässt auch in England keine Torhüterinnen-Debatte aufkommen.
Fuchs: In allen Bereichen weiterentwickelt
Die gebürtige Cellerin nahm auf dem Weg zu einer Weltklassespielerin einige Umwege in Kauf: Weil sie damals in Wolfsburg hinter Schult nicht zum Zug kam, wechselte sie 2018 zum SC Freiburg, zwei Jahre später dann zu Eintracht Frankfurt. „Sie hat sich in allen technischen und taktischen Belangen weiter entwickelt, auch in der Persönlichkeit”, sagt DFB-Coach Fuchs.
In Frankfurt habe Frohms sehr intensiv mit dem Spezialisten Marcel Schulz gearbeitet. Die Keeperin habe „ein sehr gutes Positionsmanagement”, zum Beispiel bei Flanken. „Sie verhält sich inzwischen viel sicherer im Raum.” Sie habe ein sehr gutes Spielverständnis und am Ball eine große Sicherheit „mit rechts und links”, erklärt Fuchs. Und natürlich eine top Sprungkraft.
Torhüterinnnen werden immer besser
Im EM-Viertelfinale in Brentford steht Frohms nun einer Rivalin gegenüber, die laut Fuchs „sehr stark über die Persönlichkeit kommt”: Austria-Keeperin Manuela Zinsberger vom FC Arsenal spielte von 2014 bis 2019 beim FC Bayern und gilt als extrovertierte Fußballerin, die nach wichtigen Paraden wie beim 1:0 gegen Norwegen die Fäuste ballt. Zinsberger hat bisher nur ein Turniertor einstecken müssen - beim 0:1 im Eröffnungsspiel gegen England. „Zwickt‘s mi, i glaub, i tram”, sagte Zinsberger nach dem Coup gegen Norwegen lachend in die Kameras.
„Was mir auffällt ist, dass sich die Torhüterinnen von Turnier zu Turnier deutlich verbessert haben. Sie werden mit dem Ball am Fuß immer sicherer und souveräner”, sagt Fuchs. Der Experte aus Nürnberg räumt allerdings auch ein, dass es immer noch öfters ein „dichtes Gedränge” bei hohen Bällen im Fünfmeterraum gebe.
Der 52-Jährige gehörte zuletzt bei der Nations League auch zum Trainerstab der deutschen Männer-Auswahl von Hansi Flick. Manuel Neuer würde sich im Training übrigens genauso über ein unnötiges Gegentor ärgern wie Frohms - „beide erst mal auf die stille Art”, sagt Fuchs, „aber man kann dann doch deutlich sehen, dass es nicht gepasst hat”.
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