„Collegium Josephinum“Nachts durch den Vorhang gegriffen

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Jahrzehnte geschwiegen: Der Kölner Professor Werner Becker schilderte Rundschau-Redakteuren sexuelle Grenzverletzungen eines leitenden Priesters im Bad Münstereifeler Konvikt. (Foto: Gauger)

BAD MÜNSTEREIFEL / KÖLN – Jahrzehntelang machte Professor Werner Becker, in Köln praktizierender Zahnarzt und Heilpraktiker, um Bad Münstereifel einen großen Bogen. Erst vor einigen Monaten, mit 68 Jahren, fand er den Mut, trotz seines beklemmenden Gefühls in der Brust das Städtchen wieder zu besuchen, in dem er in seiner Jugend Dinge erlebt habe, über die er jahrzehntelang nicht habe sprechen können. Der Spross einer katholisch geprägten Familie lebte zwei Jahre im erzbischöflichen Knaben-Konvikt „Collegium Josephinum“. In dieser Zeit, so sagt er, habe er unter den sexuellen Grenzverletzungen durch einen Priester in leitender Funktion gelitten.

Über Jahrzehnte hinweg habe er die Gedanken an die Erlebnisse seiner Jugendjahre verdrängt. Wie damals, als er - geprägt durch ein Elternhaus, in dem ein Priester die ethisch und moralisch höchste Instanz war - aus „reiner Überlebenstaktik“ geschwiegen habe, so sei er auch auf seinem späteren Lebensweg stumm geblieben.

Erst als er bei einem Krankenhausaufenthalt einen Priester kennen gelernt habe, der von ähnlichen Erfahrungen im Münstereifeler Internat berichtete, habe er sein Schweigen brechen können. In Begleitung dieses Priesters, der anonym bleiben will, suchte Werner Becker den Kontakt zur Rundschau-Redaktion, um sich das von der Seele zu reden, was ihn bis heute belastet.

Als Präsident der Kölner Karnevalsgesellschaft „Fidele Burggrafen“ stehe er ohne Lampenfieber vor tausend Menschen auf der Bühne. „Doch bis zum heutigen Tag habe ich es nicht geschafft, eine für mich fremde Frau zum Tanzen aufzufordern“, sagt der Zahnarzt und Heilpraktiker. Wenn er Lebenspartnerinnen gefunden habe, dann sei die Initiative von diesen ausgegangen, sagt der Vater dreier Kinder. Und auch körperliche Berührungen seien für ihn problematisch.

Fotografisch genau schildert der Professor und Abteilungsleiter für Komplementäre Zahnmedizin an der Ovidius-Universität im rumänischen Constanza im Rundschau-Gespräch die traumatisierenden Erlebnisse der beiden Jahre. Mit den idyllischen Bildern aus Heinrich Spoerls „Feuerzangenbowle“, mit denen er nach Münstereifel gekommen sei, habe die Realität wenig zu tun gehabt. Er beschreibt das Szenario der großen, düsteren Schlafsäle und Waschräume, die Internatsregeln und den streng vorgegebenen Tagesablauf.

Vor allem aber habe er den leitenden Priester in dem traditionsreichen Jungen-Internat deutlich vor Augen, der, so Becker, bei Begrüßung und Verabschiedung stets um Gesichtskontakt bemüht gewesen sei. „Ich ekelte mich davor, dass er sein immer schwitziges Gesicht an meinen Wangen abwischte“, erinnert sich Becker an Berührungen, die ihn als 17-jährigen Spätentwickler ebenso erstarren ließen wie die schmerzhaften Kniffe überall am Körper. Unhörbar sei der Mann nachts durch den Schlafsaal geschlichen, in dem nur die Zellenvorhänge ein wenig Intimsphäre boten. Häufig, so Becker, sei der Mann durch diese hindurch an sein Bett getreten und habe ihm mit den Händen über den Kopf gestrichen.

Auch beim Waschen habe der Priester die Schüler regelmäßig beobachtet. Persönliche Verfehlungen wie verbotene Abendausflüge ins Städtchen seien mit abendlichen Gesprächen geahndet worden. Dazu habe man nach der Zu-Bett-Geh-Zeit in dessen privaten Räumen erscheinen müssen - stets im Schlafanzug.

Immer wieder nickend bestätigt der Becker begleitende Priester, der später in Bad Münstereifel sein Abitur machte, diese Schilderungen. Auch er erinnere sich allzu gut an die nächtlichen Besuche am Bett, die bei ihm Widerwillen und Ekel hervorgerufen hatten. Einmal, so sagt er, habe der nächtliche Besucher ihm die Hand in den Schlafanzug geschoben.

Doch warum vertrauten sich die beiden damals niemandem an? „Wem denn?“, sagt Becker: „Im Internat gab es niemanden, an den man sich hätte wenden können.“ Ein weiterer Priester oder die angestellten Präfekten hätten keine Macht gehabt.

Nicht mal zuhause habe er etwas darüber sagen können. Ein katholischer Priester sei für seine Familie die absolute Institution gewesen. „Es war eine schwere Sünde, über einen Priester was Schlechtes zu sagen.“ Und einen Priester sexueller Verfehlungen zu bezichtigen? Becker: „Ich mag es mir gar nicht ausmalen, was ich daraufhin hätte alles erleiden und erdulden müssen. Also war es reine Überlebenstaktik zu schweigen.“

Im Konvikt habe dieser Priester eine absolute Machtposition gehabt. Bei Verfehlungen der Schüler seien manche bereits geflogen. Bei anderen habe er es mit Ermahnungen und Strafen wie der Arbeit in der dem Internat angegliederten Landwirtschaft bewenden lassen. Meist habe man ihn dann kurze Zeit später in einem neuen Priestergewand gesehen. Becker ist sicher, dass auch sein eigener Vater sich unter die „Sponsoren“ einreihte, um Verfehlungen seines Sprösslings auszubügeln.

Selbst unter Mitschülern, die ähnliche Erfahrungen machten, sei das Thema eher tabu gewesen, wenn man mal von spöttischen Bezeichnungen wie der als „Thermo-Fratenser“ absehe. Auch im St. Michael-Gymnasium, das die Konvikt-Schüler besuchten, habe es in dieser Problematik keine Ansprechpartner gegeben.

Doch warum wendet sich Becker jetzt, Jahrzehnte nach dem Tod des Priesters, damit an die Öffentlichkeit?

„Ich will keine Rache oder irgendeine Wiedergutmachungs-Zahlung“, sagt er. „Ich erwarte ein persönliches Entschuldigungsschreiben des derzeit für die Diözese verantwortlichen Bischofs als Leiter der Amtskirche.“ Er erwarte vom Erzbistum, dass alle Schüler, die in der Amtszeit des von ihm beschuldigten Priesters im Konvikt lebten, angeschrieben und befragt würden. Becker: „Sicherlich sind schon viele Opfer nicht mehr unter den Lebenden. Doch soll anderen die Möglichkeit gegeben werden, wie auch mir, nach vielen Jahren des Schweigens, ein dunkles Kapitel im Leben zu beleuchten und die Wunden der Seele zur Abheilung zu bringen.“

Gleichzeitig erklärte er, dass er zu einer vom Erzbistum eingesetzten Stelle zur Aufarbeitung derartiger Vorfälle kein Vertrauen habe.

Zu seinem Fall wollte sich das Erzbistum Köln mit Hinweis, dass man erst den direkten Kontakt zu Opfern suche, gegenüber der Rundschau nicht äußern (siehe unten).