Am 4. April 1949 wurde die Militärallianz gegründet. Während nach dem Kalten Krieg ihre Bedeutung abnahm, erlangt sie mit dem Ukraine-Krieg neue Relevanz. Wie geht es nun weiter?
75 Jahre MilitärbündnisNato steht zum Jubiläum vor einer Zerreißprobe
Es wird bei der Nato derzeit gefeiert, leise zwar und ohne viel Pomp, aber demonstrativ mit großem Stolz und der Ausstellung des Nordatlantikvertrags im Brüsseler Hauptquartier. Immerhin, das Verteidigungsbündnis blickt zurück auf „75 Jahre Frieden und Freiheit“ für den Kreis der Mitglieder, „das ist schon etwas“, lobt ein Nato-Beamter im Vorfeld des zweitägigen Außenminister-Treffens. Vorbei die Zeiten, als sich die transatlantische Allianz in einer Sinnkrise verfing und der französische Präsident Emmanuel Macron ihr den „Hirntod“ bescheinigte. Der Patient, er ist spätestens seit der Vollinvasion Russlands in die Ukraine wieder quicklebendig. Einerseits.
Erinnerungen an den Kalten Krieg
Andererseits ist die Wiederbelebung auch ein Symbol düsterer Zeiten, wie ein hochrangiger Diplomat eingesteht. „Wenn die Nato Konjunktur hat, heißt das, dass es der Welt schlecht geht.“ Tatsächlich fällt das Jubiläum in eine neue Realität, die an vielen Stellen klingt wie aus den Archiven des Kalten Kriegs kopiert. Man befinde sich „in einer unglaublich anstrengenden Phase, sowohl politisch wie auch in ihren eigenen Strukturen, ihre militärischen Bereiche auf Vordermann zu bringen“, hieß es denn auch aus Diplomatenkreisen.
Die Nato steht vor einer Zerreißprobe: Von außen bedroht durch einen Krieg mitten in Europa, von innen durch diejenigen, die sie für obsolet halten – wie etwa Donald Trump, der möglicherweise bald als US-Präsident ins Weiße Haus zurückkehren könnte. Die Aussicht eines Wahlsiegs des Republikaners sorgt hinter den Kulissen der Nato wahlweise für Nervosität oder blanke Panik. Unlängst drohte Trump jenen Partnern, deren Verteidigungsausgaben nicht die Zielmarke erreichen, im Fall eines russischen Angriffs keine amerikanische Unterstützung zu gewähren.
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Das wäre insofern ein Problem, weil das Verteidigungsbündnis auf Abschreckung setzt. Die gemeinsame Sicherheitsgarantie beruht auf Artikel 5, dem Eckpfeiler der Allianz, der besagt, dass eine Attacke eines Nato-Mitglieds ein Angriff auf alle ist. In der Geschichte der Organisation wurde der Bündnisfall erst einmal ausgerufen – als Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001.
Nato: Ein Schutzschild gegen Aggression
Als Harry S. Truman am 4. April 1949 den Nordatlantikpakt unterzeichnete, erwähnte er nicht einmal, gegen wen die neue Allianz aus zwölf Mitgliedern gerichtet war. Statt die Sowjetunion explizit zu nennen, hob der US-Präsident bei der damaligen Zeremonie vielmehr hervor, dass der Vertrag „ein Schutzschild gegen Aggression und Angst vor Aggression schaffen wird – ein Bollwerk, das es uns ermöglichen wird, mit der wirklichen Aufgabe fortzufahren, ... ein erfüllteres und glücklicheres Leben für alle unsere Bürger zu erreichen“.
75 Jahre später hat sich am Ziel der mittlerweile 32 Mitglieder zählenden Organisation nicht viel geändert. Und auch der aktuelle Gegner sitzt wie der ursprüngliche Opponent in Moskau. Die Nato besinnt sich wieder auf ihre Kernaufgabe: als System kollektiver Verteidigung und mit dem Mittel militärischer Abschreckung die Expansionsbestrebungen des Kremls aufzuhalten. Russlands Präsident Wladimir Putin hat der Nato damit wieder Bedeutung und Relevanz verschafft.
Zeitenwende bei der Nato
Den Paradigmenwechsel vollzog das Bündnis beim großen Gipfel in Madrid im Juni 2022 mit der Verabschiedung eines neuen strategischen Konzepts, das eine politische wie militärstrategische Zeitenwende markierte, wenn man einmal wieder diesen Begriff bemühen will. Diese beinhaltete eine massive Aufrüstung und eine Stärkung der Ostflanke. Außerdem traten 2023 erst Finnland, dieses Jahr dann auch Schweden offiziell dem Nordatlantikrat bei. Hatte Putin als erklärtes Ziel der Invasion in die Ukraine ausgegeben, weniger Nato zu bekommen, erhielt er „genau das Gegenteil“, wie Generalsekretär Jens Stoltenberg regelmäßig betont.
Das Konzept aus Madrid löste jenes aus dem Jahr 2010 ab, als Russland noch als „strategischer Partner“ galt – und die Welt zumindest eine andere zu sein schien. Während das Wettrüsten zwischen Ost und West über Jahrzehnte die Politik bestimmte, begann nach dem Ende des Kalten Kriegs ab 1989 eine Zeit der Abrüstung – und der Hoffnung auf mehr Sicherheit auf dem Kontinent. Gleichwohl geriet die Allianz in eine Sinnkrise. Was war noch ihre Daseinsberechtigung? Sie verstrickte sich in Missionen wie im Kosovo, die völkerrechtlich zwar umstritten, aber erfolgreich war, nachdem das Bündnis 1999 ein Massensterben verhindert hatte. Der Einsatz in Afghanistan endete dagegen im Sommer 2021 nach 20 Jahren mit einem desaströsen Abzug – ein Debakel, das gerne wegignoriert wird.
Gedanke der Stärke kehrt zurück
Der frühere britische Premierminister Winston Churchill sagte einmal, er sei zu der Überzeugung gelangt, dass es nichts gebe, was die Russen „so bewundern wie Stärke und dass sie vor nichts weniger Respekt haben als vor Schwäche, insbesondere militärischer Schwäche“. Mehr als acht Jahrzehnte nach Churchills Ausführungen ist es wieder dieser Gedanke, von dem sich die Nato leiten lässt. So trainiert die Allianz etwa seit Februar mit rund 90000 Soldaten. Das Manöver „Steadfast Defender“ ist die größte Übung des Verteidigungsbündnisses seit Jahrzehnten. Sie soll die Fähigkeit demonstrieren, den euro-atlantischen Raum durch eine Verlegung von US-Truppen zu verstärken und als Beleg dienen für den Zusammenhalt, die Stärke und die Entschlossenheit zum gegenseitigen Schutz.
„Es wird keine Rückkehr zum 23. Februar 2022 geben“, ist immer wieder in Brüssel zu vernehmen. Am Tag darauf marschierte Russland in die Ukraine ein. Doch wie sieht die Zukunft der Nato angesichts der Bedrohungen aus? Während ein Lager, angeführt von Macron, darauf pocht, auch die Entsendung von Bodentruppen in die Ukraine zumindest nicht auszuschließen – Stichwort „strategische Ambiguität“, nach der man als Instrument der Abschreckung keineswegs vorab rote Linien definieren dürfe –, bezeichnete ein Diplomat diese Woche einen solchen Schritt als „die röteste aller roten Linien“.
Wird die Allianz doch bald zur Kriegspartei? Oder ist sie das längst? Mit der Lieferung von Waffen an die Ukraine wollte sie in den vergangenen zwei Jahren nichts zu tun haben. Vielmehr kam die Militärhilfe von den einzelnen Mitgliedstaaten, die diese im sogenannten Ramstein-Format unter US-Führung absprachen. Abseits der Nato, wohlgemerkt. Nun forderte Stoltenberg, dass die Nato die Koordinierung der Unterstützung übernimmt. Es wäre ein Novum. Die Trennlinien der Rollen, sie scheinen zunehmend zu verwischen.