Biopics wie die Netflix-Serie "The Crown" sind Trend - halb historisch, halb fiktional, mit realen Personen. Aber das Hirn des Zuschauers hält Erfundenes für echt.
GedächtnisforschungWarum wir „The Crown“ mit der Wirklichkeit verwechseln
Die verstorbene Queen Elizabeth II. war kalt und konnte keine Gefühle zeigen. Gerade hat Lady Diana ihre Schwiegermutter in größter Verzweiflung umarmt. Und die Queen - erschrocken über die körperliche Nähe - ist unfähig, die Umarmung zu erwidern. Ihre Arme hängen schlaff herunter. Eine entlarvende Szene. Eine, die im Gedächtnis bleibt. Und eine falsche. Denn diese Episode hat es in Wirklichkeit wohl nie gegeben. Sie ist eine Episode aus der Netflix-Serie "The Crown".
Queen Elizabeth II. hat ihre Schwiegertochter regelmäßig umarmt - oder sie hat es nie getan. Elizabeth war einfühlsam gegenüber ihrer Schwiegertochter oder eiskalt: Nur die beiden konnten es wissen. Aber in diesen Wochen wissen es alle: Denn in der fünften Staffel von „The Crown“, in zehn weiteren Folgen, zerrt Netflix nun neben der Queen auch Diana, Charles und deren Söhne ins Rampenlicht. Fiktiv, versteht sich.
Den historischen Rahmen bilden präzise recherchierte Fakten
Die Royals sind bekannt für ihre Verschlossenheit. Und wenn schon fiktiv, dann kann es auch in emotionale Tiefen gehen. Etwa, wenn die Queen plötzlich beschließt, sich für das Leben ihrer Kinder zu interessieren - und Dossiers erstellen lässt. Oder wenn Charles seiner Frau hilflos vorwirft, von den Menschen geliebt zu werden (und er nicht). Den historischen Rahmen bilden präzise recherchierte Fakten, die Szenen sind zumeist frei erfunden.
Alles zum Thema Netflix
- 120 Millionen Zuschauer bei Netflix So lief der Kampf zwischen Mike Tyson und Influencer Jake Paul
- Rücktritt von Schauspiel-Rente Trailer zu Cameron Diaz' Comeback-Film „Back in Action“ erschienen
- Comeback von Box-Ikone Mike Tyson bekommt Vermögen für Kampf gegen verschmähten Influencer
- Hollywood-Star Lady Gaga steigt wohl in TV-Horrorserie ein
- „Eintauchen“ in Serien Netflix kündigt Erlebniswelten in zwei US-Einkaufszentren an
- Filme, Serien, bald auch Sport? Netflix trotzt Prognose – neun Millionen neue Abos
- So teuer sind die Abos jetzt Streaming-Anbieter Netflix erhöht Preise in Deutschland
Aber sie sind wirkmächtig. Denn das Gehirn unterscheidet in seiner Wahrnehmung kaum zwischen echt und fiktiv. Die Bilder der wirklich brillanten Olivia Colman als ältere Queen verschmelzen im Gehirn der Zuschauer mit den Bildern, die man von der echten Königin hat. Und auch Imelda Staunton wird die nunmehr alte Queen so überzeugend darstellen, dass sie im Gehirn der Zuschauer nicht mehr von der echten zu trennen sein wird. Trotzdem sind die Szenen fiktiv!
Die Erinnerung an die historische Margaret Thatcher wurde von Gillian Anderson, die die Premierministerin fast als Karikatur spielte, unauslöschlich verändert. Prinz Philip, Winston Churchill, Denis Thatcher, Charles – sie alle werden auf der Leinwand im Detail seziert: Das Bild der Königsfamilie wird damit in Millionen Gehirnen neu geschrieben.
In Experimenten bewiesen, wie manipulierbar Erinnerungen sind
Das ist nicht übertrieben: Die US-amerikanische Gedächtnisforscherin Elisabeth Loftus hat in zahlreichen Experimenten bewiesen, wie manipulierbar Erinnerungen sind. Es gelang ihr, freiwilligen Probanden ein nie stattgefundenes Kindheitsereignis in einem Einkaufszentrum als eigene Erinnerung einzupflanzen - nur durch geschickte Gesprächsführung. Einige der Probanden konnten hinterher nicht mehr zwischen diesem fiktiven und drei echten Erlebnissen unterscheiden. Sie hatten plötzlich Bilder vor Augen, die sie selbst in einer nie erlebten Situation zeigten. Sie hätten jeden Lügendetektor überlistet, weil das Erlebnis für sie einfach wahr war.
In einem anderen Experiment knüpfte Loftus an eine echte Erinnerung an: einen Besuch in Disneyland. Nach entsprechenden Gesprächen meinten die Teilnehmer, sie hätten dort - als Kind - Bugs Bunny getroffen. Unmöglich, weil der gar nicht in die Disneywelt gehört, sondern zu Warner Brothers.
Offensichtlich reichen schon geschickt geführte Gespräche, um eine neue Erinnerung zu erschaffen. Umso tiefer dürften sich gut geschriebene und gespielte Fernsehszenen in die Erinnerung einbrennen. Elisabeth Loftus hält die Wirkung eines gut gemachten Biopics jedenfalls für vergleichbar: „Es ist äußerst wahrscheinlich, dass Menschen, die ‚The Crown‘ gesehen haben, sich an die wirkliche Geschichte falsch erinnern werden“, sagt sie. „Sie werden sich an die falschen Informationen genauso erinnern, als hätten sie wirklich stattgefunden.“
Dass das kaum zu glauben ist, hat mit einem Missverständnis zu tun. „Wahrheit ist für das menschliche Gedächtnis keine Kategorie, Wahrheit ist sekundär“, sagt Onur Güntürkün, Hirnforscher von der Ruhr-Universität in Bochum. „Es geht nicht um die wahre Vergangenheit, sondern darum, möglichst viele Informationen zu sammeln, um Dinge in der Zukunft so präzise wie möglich vorherzusagen.“
Nicht eine korrekte Biografie sei das Ziel, sondern das Überleben durch möglichst viele Informationen. „Wenn eine fiktive Szene an Alterinnerungen anknüpfen kann, und wenn sie gleichzeitig sehr plausibel erscheint, dann dürfte sie einige Zeit später mit der früheren Erinnerung verknüpft sein - und nicht mehr von dieser unterscheidbar“, sagt der Biopsychologe Güntürkün. Das Gehirn unterscheidet nicht zwischen Wahrheit und Fiktion.
Serie bildet nicht eins zu eins die Wirklichkeit ab
Die Macher von „The Crown“ nehmen sich die Freiheit, Szenen zu erfinden. „Ich bin nicht völlig davon überzeugt, dass Exaktheit ein Wert an sich ist“, sagt der Drehbuchschreiber Peter Morgan in einem Interview. Und Josh O'Connor, der Darsteller von Prince Charles: „Es ist nicht mein Job, die wahre Geschichte von Prinz Charles zu erzählen - das ist überhaupt nicht das, was wir hier tun“. Und natürlich ist jedem Zuschauer eigentlich klar, dass die Serie nicht eins zu eins die Wirklichkeit hinter den Palastmauern abbildet. Aber das nützt nichts. Das Gehirn speichert die Informationen trotzdem als real ab und fügt sie dem vorbekannten Bild der Königsfamilie hinzu (das natürlich ebenfalls kein objektives Abbild der Wirklichkeit ist).
Im Juli 1982 brach der arbeitslose Michael Fagan nachts in den Buckingham Palace ein und stand schließlich am Bett der schlafenden Königin. Die reagierte - angeblich - geistesgegenwärtig und führte ein längeres Gespräch mit dem Mann, bis eine Angestellte das Zimmer betrat. Und obwohl es keine Bilder von diesem „Treffen“ gibt und auch nur wenige Informationen über den Mann, sein Motiv und über das Gespräch selbst, kennen nun Millionen von Zuschauern die Szene, in der der Arbeitslose seiner Monarchin sein Leben erzählt. Peter Morgan hat sie erfunden - und Michael Fagan hat einen neuen Platz in der englischen Geschichte - ungefragt.
Die Wirkmacht guter Schauspieler zeigt sich nicht nur in „The Crown“. Zahlreiche Biopics erobern Kino und Hirn der Zuschauer. Biopics - übrigens eine Verschmelzung aus Biografie und „Motion picture“, also Film - gibt es über Freddy Mercury von Queen wie über Ludwig van Beethoven. Interpretationen werden zu emotionalen Bildern verdichtet. Ist das erlaubt? Vor allem: Ist das erlaubt, wenn die handelnden Personen noch leben? Es ist schwer nachvollziehbar, welchen Schaden König Charles III nimmt, wenn illegal abgehörte sexuelle Phantasien visualisiert werden.
Judy Dench fordert Warnhinweis von Netflix
Eine Antwort gab das Bundesverfassungsgericht. Es hatte im Jahr 2007 in letzter Instanz über den Roman „Esra“ von Maxim Biller zu urteilen. „Es geht in dem Buch um die ehemalige Beziehung des Autors zu einer türkischen Filmregisseurin - und um sehr explizite Darstellungen sexueller Praktiken“, sagt Karl-Nikolaus Peifer, Chef des Kölner Instituts für Medienrecht. Der Roman wurde verboten, weil der Inhalt sehr real erschien - und damit die Rechte einer konkreten Person verletzt wurden. „Allerdings verblasst der Persönlichkeitsschutz mit dem Tode. Nach 10-25 Jahren, wenn es keine lebenden Nachkommen mehr gibt, gilt er als erloschen“, so Peifer. „Prominenz - wie etwa bei der Queen - kann den Schutz zwar schwächen, löscht ihn aber nicht aus. In Großbritannien gibt es das Persönlichkeitsrecht so allerdings nicht.“
Die Schauspielerin Judi Dench (die selbst schon zwei Königinnen gespielt hatte) hat gerade in einem Brief „The Crown“ als „sowohl grausam ungerecht gegenüber den Personen als auch schädlich für die Institution, die sie vertreten“ bezeichnet. Sie forderte einen Warnhinweis von Netflix, dass die Serie fiktional sei. Der wird nun wohl auch kommen - neurologisch ist das allerdings Unsinn. Die Szenen werden sich trotzdem einbrennen. Nur wenn die Schauspieler schlecht und das Drehbuch unglaubwürdig wären, würde das Gehirn sich weigern, sie als real abzuspeichern. Aber „The Crown“ ist gut, sehr gut sogar!