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Ukrainerin berichtet„Europa muss handeln, bevor es zu spät ist“

Lesezeit 5 Minuten
Mainz: Ein Mann trägt während einer Demonstration gegen den russischen Angriff auf die Ukraine Luftballons in den Farben der Ukraine.

Mainz: Ein Mann trägt während einer Demonstration gegen den russischen Angriff auf die Ukraine Luftballons in den Farben der Ukraine.

Brief aus Lwiw: Eine ukrainische Autorin über die Lage ihres Landes, Verteidigungswillen, Kriegsmüdigkeit und Trumps Äußerungen

Solomia Kratsylo, Informatikerin und Fotografin aus Lwiw (Lemberg), hat schon unmittelbar nach russischen Überfall vom 20. Februar 2024 ihre Eindrücke für die Rundschau-Leser festgehalten. Wir haben sie gebeten, uns noch einmal zu schreiben.

Die Ukraine erlebt ihre bedrohlichsten Tage seit dem Beginn der Großinvasion am 24. Februar 2022. Während die Welt einem weiteren Verhandlungsfrieden und dem feierlichen Versprechen eines Diktators, nie wieder anzugreifen, entgegen stolpert (wo haben wir das nur schon mal gehört?), merke ich, dass ich nicht aufhören kann, zu grübeln. Ich weiß, dass es vielen meiner ukrainischen Landsleute ähnlich geht, dass sie darüber nachdenken, wie es so weit kommen konnte, und riesige Angst vor der Zukunft haben.

Es ist schwer zu glauben, dass der Krieg nun schon drei Jahre dauert, und dass für keine Seite ein vernünftiges oder gar „siegreiches“ Ende in Sicht ist. Bei meinem täglichen Scrollen durch Facebook sehe ich Traueranzeigen für Freunde und ehemalige Klassenkameraden, die ihr Leben oder ihre körperliche Unversehrtheit dafür gegeben haben, die Ukraine und die Demokratie zu verteidigen. Und sie haben sie in der Tat verteidigt, denn unsere geliebte blau-gelbe Flagge weht noch immer über Kiew, Charkiw, Odessa und überall in unserem Land.

Die meisten europäischen und amerikanischen „Verteidigungsexperten“ haben damals gesagt, wir würden dem russischen Ansturm drei Tage standhalten. Und hier sind wir nun, drei Jahre später, immer noch Europas Bastion der Demokratie, halten die Stellung gegen die Horde aus dem Osten, die sich über die Zerstörung von Europa und allem, wofür es steht, freuen würde.

Kampf für Freunde, Familie und Demokratie

Wir kämpfen für unsere Freunde und Familien, für den Erhalt eines lang herbeigesehnten Staates, für das Recht, eine Demokratie zu sein und in Freiheit zu leben statt unter der Herrschaft eines Tyrannen. Ebenso wissen wir, dass wir für Europa und Amerika – die sogenannte „westliche Welt“ – kämpfen. Ich hoffe, man kann verstehen, warum wir ein wenig unwillig oder sogar wütend reagieren, wenn wir die Reden westlicher Staatsoberhäupter hören, die unaufhörlich etwas von der „Notwendigkeit einer Deeskalation“ erzählen. Oder wenn wir Hilfe nur häppchenweise bekommen – man gibt uns gerade genug, damit wir überleben, aber nicht genug, damit wir uns erholen.

Als Trump gewählt wurde, waren manche Ukrainer voller Freude – endlich ein starker Anführer, der das Problem ein für alle Mal lösen würde. Diese Leute, so scheint mir, sind gerade ziemlich still. Keine Ahnung, wo sie alle hin sind. Um ehrlich zu sein, übertrifft das, was Trump gerade sagt und tut, meine schlimmsten Albträume. Ich muss sicherlich nicht jede seiner unsinnigen Behauptungen wiederholen, belassen wir es dabei, dass er einfach die reine russische Propaganda von sich gibt. Manche in meinem Freundeskreis glauben, das sei eine clevere Verhandlungsstrategie, aber ich bezweifle das. Er ist ein Lügner und Rüpel. Er gibt dem Opfer, der Ukraine, die Schuld und verlangt, dass die Ukraine den USA exklusive Rechte einräumt, unsere Rohstoffe abzubauen. Er unterminiert uns (fast wortwörtlich).

Die Behauptung, dass Selenskyj irgendwie unrechtmäßig an der Macht sei, was Trump und seine bösartigen Helfershelfer immer öfter wiederholen, ist Seite Eins des russischen Propaganda-Lehrbuchs. Ich will nicht sagen, dass Selenskyj oder seine Regierung so wahnsinnig beliebt in der Ukraine sind, wie einige Außenstehende es glauben, oder gerne glauben wollen. Trotzdem hat er recht hohe Zustimmungswerte (zumindest höhere als Sie-wissen-schon-wer!). Er ist ein Symbol der Ukraine und hat unsere Unterstützung verdient. Tatsächlich verbietet die ukrainische Verfassung Wahlen in einer Situation des Ausnahmezustands, in welcher wir uns ja auch befinden.

Es gibt eine Kriegsmüdigkeit in der Ukraine

Es gibt, das gebe ich zu, eine starke Kriegsmüdigkeit. Die Leute sind erschöpft wegen des häufigen nächtlichen Luftalarms und der Angriffe. Eine unserer größten Befürchtungen war, im Winter zu erfrieren, als Russland seine Angriffe auf unsere Strominfrastruktur und Erdgasreserven wieder aufnahm. Wir haben das überlebt, versorgt mit Powerbanks und alternativen Stromquellen. Jetzt kommt der Frühling. Das ist sowohl für die Verteidiger als auch für die Zivilbevölkerung leichter. Trotz dieser kleinen erfreulichen Tatsache gibt es Ermüdungserscheinungen, sowohl physisch als auch psychisch. Viele Männer im rekrutierfähigen Alter zögern, der Armee beizutreten, nicht nur wegen der hohen Sterblichkeitsrate, sondern weil sie Angst haben, von den Russen gefangen genommen und gefoltert zu werden.

Kürzlich traf ich auf einer Reise einen pensionierten französischen Lehrer für Politikwissenschaft, der mich mit den besten Absichten davon überzeugen wollte, dass der Krieg um jeden Preis so schnell wie möglich beendet werden sollte. Er fragte mich: „Würden Sie wollen, dass Ihr Mann in den Krieg zieht und vielleicht getötet wird?“ – „Mein Mann ist ausländischer Staatsbürger, obwohl er in der Ukraine lebt“, sagte ich, „aber ich bin geistig bereit, selbst in die Armee einzutreten, wenn es dringend nötig ist. Im Gegensatz zu den Russen und den nordkoreanischen Soldaten wissen wir, wofür wir kämpfen.“

Niemand braucht das Ende des Krieges mehr als die Ukrainer, aber wir kennen die Russen besser als Sie. Wir wissen, dass jegliches Einfrieren des Konflikts Putin nur die Möglichkeit gibt, seine Wunden zu lecken, die russische Wirtschaft auf Vordermann zu bringen, wieder aufzurüsten und dann seinen Angriff fortzusetzen. Die beste Garantie für die Sicherheit der Ukraine und den Erhalt Europas ist die Aufnahme der Ukraine – die über das erfahrenste und effektivste Militär der Welt verfügt – in die Nato und die EU.

Bedauerlicherweise scheinen diese Optionen jedoch im Moment vom Tisch zu sein. In der Tat scheint Trump eher darauf aus zu sein, diese und andere Institutionen zu demontieren, als ihr volles Potenzial zum Guten zu nutzen. Es ist dringend notwendig, dass Europa jetzt handelt, um das Vertrauen in die Demokratie wiederherzustellen, wieder aufzurüsten und die Ukraine zu unterstützen (bitte!), bevor es zu spät ist.