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Ukraine-KriegDie Türkei steht zwischen den Fronten

Lesezeit 5 Minuten
Sicher in Istanbul eingelaufen: Die „Joseph Schulte“ saß anderthalb Jahre lang in Odessa fest.

Sicher in Istanbul eingelaufen: Die „Joseph Schulte“ saß anderthalb Jahre lang in Odessa fest.

Präsident Erdogan will ein neues Getreide-Abkommen vermitteln, wird aber von beiden Seiten unter Druck gesetzt. Russische Soldaten enterten jüngst ein türkisches Schiff – doch die Regierung spielt den Fall herunter.

Schwer bewaffnete Soldaten seilen sich aus Hubschraubern auf das Deck eines Frachters im Schwarzen Meer ab und durchkämmen die Mannschaftsräume. „Hinsetzen!“, herrschen sie die Besatzungsmitglieder auf der Brücke mit vorgehaltener Waffe an. Russische Staatsmedien veröffentlichten ein Video des Einsatzes, das eine außenpolitische Botschaft transportierte. Das geenterte Schiff, die „Sükrü Okan“, hat eine türkische Besatzung und wurde von den russischen Soldaten in internationalen Gewässern nahe der türkischen Küste bei Istanbul aufgebracht: eine Warnung an Ankara.

Der Angriff auf das Schiff so nah an Istanbul sei „Piraterie“, so der türkische Sicherheitsexperte Yörük Isik. Weil die russische Marine zu einer wirksamen Seeblockade der ukrainischen Küste nicht fähig sei, bedränge sie einzelne Schiffe, sagte Isik unserer Redaktion. Das sei ein Armutszeugnis: „Sie sind so tief gesunken, dass ihnen nur noch Piraterie bleibt – das ist traurig.“

Das Schwarze Meer ist seit dem Ablauf des Getreide-Abkommens am 17. Juli gefährlicher geworden. Russland betrachtet alle Schiffe mit Kurs auf die Ukraine als potenzielle Waffenlieferanten und damit als legitime militärische Ziele. Mit dieser Warnung und mit Luftangriffen auf ukrainische Häfen will Russland Getreide-Exporte verhindern. Kiew reagierte mit einem Drohnenangriff auf ein Kriegsschiff im russischen Exporthafen Noworossijsk.

Deutscher Frachter passiert Seekorridor ohne Zwischenfälle

Die Ukraine rief zudem einseitig einen Seekorridor für Schiffe aus, die trotz der russischen Drohung im Schwarzen Meer unterwegs sind. Als erstes Schiff passierte der Containerfrachter „Joseph Schulte“, der zum Teil deutschen Eignern gehört, diesen Korridor und traf gestern aus Odessa kommend in Istanbul ein. Die türkischen Meerengen Bosporus und Dardanellen sind die wichtigsten Transportwege für ukrainische und russische See-Exporte.

Für die Türkei ist die neue Konfrontation im Schwarzen Meer eine schlechte Nachricht. Präsident Recep Tayyip Erdogan ließ sich im vergangenen Jahr als Architekt des Getreide-Abkommens feiern, das die Ausfuhr von 33 Millionen Tonnen ukrainischen Getreides ermöglichte und als Schritt zu einer Deeskalation im Ukraine-Krieg galt. Der Erfolg untermauerte Erdogans Rolle als Vermittler und als einziger Präsident eines Nato-Staates, der sowohl mit Kremlchef Wladimir Putin als auch mit dem ukrainischen Staatschef Wolodymyr Selenskyj sprechen kann. Seit dem Ablauf des Abkommens versucht Erdogan, den Vertrag neu aufzulegen. Er gibt Europa und den USA die Schuld daran, dass Russland das Abkommen aufgekündigt hat, und unterstützt die russischen Bedingungen für eine Neuauflage: Der Westen habe seine Zusagen nicht erfüllt, sagt Erdogan. Moskau will Erleichterungen für seine Exporte von Getreide und Dünger durchsetzen, die bisher von westlichen Sanktionen behindert werden.

Doch Erdogan hat ein Problem: Er hat sich mit seinen jüngsten Bemühungen um ein besseres Verhältnis zum Westen – unter anderem verärgerte er Russland mit der Freilassung ukrainischer Offiziere, die in der Türkei einsaßen – bei Putin unbeliebt gemacht. Das Video von der „Sükrü Okan“ ist ein Beispiel dafür. Auch ein russischer Luftangriff auf den ukrainischen Hersteller von Motoren für türkische Kampfdrohnen zählt dazu. Erdogan kündigt zudem seit Mai einen baldigen Besuch von Putin in der Türkei an, doch der Kreml zögert mit einem Datum. Trotzdem hofft Erdogan auf ein Treffen noch im August.

Erst Schweigen, dann eine windelweiche Stellungnahme

Ganz offenbar will er deshalb Putin nicht noch mehr verärgern. Zu dem Militäreinsatz auf der „Sükrü Okan“, die unter der Flagge des Pazifik-Kleinstaates Palau fährt, schwieg Erdogans Regierung tagelang. Kritik der Opposition an der Leisetreterei zwang das Informationsamt schließlich zu einer windelweichen Stellungnahme. Das Frachtschiff fahre nicht unter türkischer Flagge und sei außerhalb türkischer Gewässer geentert worden, erklärte die Behörde. Ankara habe Moskau „in angemessener Form gewarnt“.

Wenn Soldaten eines anderen Landes die „Sükrü Okan“ aufgebracht hätten, wäre in Ankara die Hölle losgewesen, kommentierte der Oppositionspolitiker und frühere Diplomat Namik Tan im Gespräch mit der Nachrichtenplattform T24. Erdogans Zurückhaltung zeige, dass seine Regierung nach wie vor eine Wiederbelebung des Getreide-Abkommens anstrebe und deshalb keinen offenen Streit mit Russland wolle, sagt auch Sicherheitsexperte Yörük Isik. „Sie zählen immer noch darauf, dass sie die Russen mit einer Initiative in letzter Sekunde zum Getreide-Deal zurückbringen können.“ Aussichtslos sei das nicht, findet Isik: Russland sei isoliert und auf neue Absprachen angewiesen. Bisher reagiert Moskau allerdings nicht auf Erdogans Angebote.


Kiews Offensive: US-Geheimdienste angeblich skeptisch

Die ukrainische Offensive werde ihr wichtigstes Ziel nach Einschätzung von US-Geheimdiensten wohl verfehlen, schreibt die „Washington Post“ unter Berufung auf mit entsprechenden Dokumenten vertraute Personen. Ihre Truppen würden nur bis auf „etliche Meilen“ an den Verkehrsknotenpunkt Melitopol herankommen. Damit erreiche die Offensive ihr Hauptziel nicht, die von Russland eroberte Landbrücke zur Krim zu durchtrennen. Offiziell gab es darauf keine Reaktionen, US-Generalstabschef Mark Milley ließ sich von der „Post“ aber mit dem Satz zitieren, er habe vorausgesagt, dass die Offensive „lang, blutig und langsam“ werde.

Die Zeitung selbst schreibt von einem „blaue game“, einem Spiel der Schuldzuweisungen: Die einen meinen, US-Präsident Joe Biden habe die Ukraine nicht genug unterstützt, andere halten schon die gewährte Hilfe für herausgeworfenes Geld. Derzeit stehen die Ukraine in Robotyne, 80 Kilometer oder 50 US-Meilen von Melitopol entfernt. Allerdings: Auch bei einem Vorstoß auf einer anderen Achse, an Melitopol vorbei, könnte die Landbrücke zur Krim durchtrennt werden.

Das unabhängige Institute for the Study of War äußert sich zuversichtlicher als – laut „Post“ – die Geheimdienste. Sowohl bei Robotyne als auch weiter östlich bei Uroschajne hätten die Ukrainer die Besatzer stark geschwächt und bei Robotyne auch „taktisch bedeutsame“ Fortschritte erzielt, die es möglich erscheinen ließen, künftig schneller voranzukommen. (rn)