Kurz vor der Bundestagswahl breitet sich einer Studie des Rheingold Instituts in Köln zufolge Frustration aus. Psychologe Stephan Grünewald warnt vor einer „Erstickung der Demokratie“.
Studie des Rheingold InstitutSo ticken die Wähler vor der Bundestagswahl
In gut drei Wochen ist Bundestagswahl. Was bewegt die Bürgerinnen und Bürger im Wahlkampf besonders, aus welcher inneren Haltung heraus machen sie ihr Kreuzchen? Wie werden die Spitzenkandidaten der einzelnen Parteien und deren Kampagnen wahrgenommen?
Zu diesen Fragen hat das Kölner Markt- und Meinungsforschungsinstitut Rheingold im Januar 2025 eine tiefenpsychologische, nicht repräsentative Studie durchgeführt, die Institutsleiter Stephan Grünewald nun vorstellte. Themen wie fehlendes Sicherheitsgefühl nach Attentaten wie jüngst in Aschaffenburg, zunehmenden Inflation und eklatante Mängel in der Infrastruktur, etwa bei Brücken oder der unpünktlichen Bahn, aber auch Fachkräftemangel in Schulen und Kitas, bewegen die Wählerinnen und Wähler am meisten.
Wähler sorgen sich um Migration, Inflation und Infrastruktur
All dies verdichte sich zu dem Gefühl, „dass aus ‚Made in Germany‘ eher ‚Marode in Germany‘ geworden ist“, sagt Psychologe Grünewald. „Das Grundgefühl der Menschen ist: Wir stecken in einem gigantischen Problemberg fest und es gibt wenig Aussicht, da wieder rauszukommen.“
Alles zum Thema Bundestagswahl
- Heftige Debatte im Bundestag Abstimmung wird durchgeführt – Aktivisten besetzen CDU-Zentrale
- Nächster Eklat um AfD-Stimmen? Abstimmung im Bundestag im Livestream – Darum geht es im Gesetzentwurf
- Vor Abstimmung im Parlament Linnemann: „Mir ist völlig egal“, was AfD macht
- AfD-Parteichef Chrupalla „Auf Merz’ billige taktische Tricks fallen wir nicht herein“
- Umfrage SPD legt zu - Union verliert leicht
- Nach Migrationsabstimmung Harsche Kritik von Oberbergs Grünen und Linken an der CDU
- Bundestagswahl, Solarstrom, KI Diese Änderungen kommen im Februar auf Verbraucher zu
Laut der Studie gebe es einen starken Wunsch nach einer „väterlichen Schutzmacht, also dass Vater Staat sich fürsorglich und durchsetzungsstark präsentiert.“ Zu Zeiten der Ampelkoalition, in die die Wählerinnen und Wähler zu Beginn ihrer Legislaturperiode noch viel Hoffnung setzten, sei jedoch vermehrt der Eindruck entstanden, dass die Koalitionäre eher mit den Streitigkeiten untereinander beschäftigt gewesen sind als mit den Sorgen und Anliegen in der Bevölkerung.
Aus diesen Erfahrungen heraus, so Grünewald, sei ein „Wunschprofil“ des künftigen Kanzlers entstanden: Er soll in der Lage sein, den Problemstau aufzulösen. „Da erwartet man explizite Macherqualitäten“, sagt Grünewald. „Der darf aber auch nicht abgehoben, sondern muss bodenständig sein, der soll uns sehen, der soll das Land lieben.“
Boris Pistorius als Wunschkandidat
Das Problem: Keiner der Spitzenkandidaten für die kommende Bundestagswahl erfüllt laut den Probanden der Studie dieses Profil. Es werde eher als Dreistigkeit empfunden, dass die Köpfe der gescheiterten Ampel, deren Ansehen ohnehin schon schwer beschädigt ist, ein weiteres Mal antreten.
Erschwerend kommt hinzu, dass der Mann, den sich viele als Kanzlerkandidaten gewünscht hätten, dies eben nicht geworden ist: Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD). „Man hat das Gefühl: Aha, der spricht Probleme wirklich an und hat eine Durchsetzungsqualität, die man noch mit Helmut Schmidt verbindet“, erklärt Grünewald.
Der Wunsch nach einer Führungspersönlichkeit mit „Macherqualitäten“ führt auch zu einem interessierten Blick nach Amerika. Donald Trump, der gerade seine zweite Amtszeit angetreten hat, scheint dort mithilfe von Dekreten quasi durchzuregieren. Das löse eine Art „Angst-Faszination“ aus, sagt der Psychologe. „Es verschiebt sich vieles in die Richtung: Sollen wir nicht auch viel egoistischer sein? Sollen wir nicht dem Beispiel Trumps folgen und ,Germany first’ postulieren? Sollen wir nicht ohne Rücksicht auf Verluste Sachen durchbringen und hinterher erst gucken, was passiert?“
Auch die Brandmauer-Diskussion hat die Studie beleuchtet. In den Gruppendiskussionen der Untersuchung, berichtet Grünewald, habe man beobachtet, dass sich Wähler der CDU und der AfD durchaus gut verstehen und ähnliche Positionen vertreten. Für Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz, so der Forscher, dürfte es zudem schwer werden, mit Grünen oder SPD nach der Wahl Koalitionen zu bilden.
Das ist für ihn Anlass zur Warnung: „Wenn es nicht gelingt, die Einigkeit der Demokraten zu beschwören, wird wieder dicke Luft sein. Und das wird zum Erstickungstod der Demokratie führen, weil jenseits der Brandmauer die AfD sitzt und sagt: Seht ihr, ihr schafft es nicht, also müssen wir jetzt ran.“
Ganz ohne Hoffnung für die Zukunft ist der Forscher jedoch nicht. „Es gibt nicht nur einen Problemstau, sondern auch eine Bewegungsenergie, und die Frage ist, wie können wir die wieder sinnvoll kanalisieren?“, so Grünewald. Es brauche klare Ziele. Die Wähler sollen zudem nicht das Gefühl bekommen, dass diese „auf dem Rücken bestimmter Milieus oder Gesellschaftsschichten ausgetragen werden, sondern das ist ein Ziel, was für alle gilt, wo auch alle mitwirken“.
Es gebe „eine Sehnsucht nach Vergemeinschaftung, die wir jenseits von Olympia oder Fußballturnieren zelebrieren können in Deutschland“, meint Grünewald. „Das braucht aber klare Ansagen. Und dann, denke ich, sind wir auf einem guten Weg.“