Krieg in Europa: Wladimir Putins Überfall auf die Ukraine hat nicht nur die Illusion einer westlich-russischen Sicherheitspartnerschaft vom Tisch gefegt. Eine Übersicht über die größten Fehleinschätzungen.
Russisch-ukrainischer KriegAls Putin eine Vergewaltigung feierte – Blick zurück aufs Jahr 2022
Am Ende des Gesprächs lud Wladimir Putin seinen Gast auf ein Glas Schampanskoje ein. Man wolle keinen Krieg in Europa, hatte der russische Präsident dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz versichert. Und der lobte, Russland habe einzelne Truppen von der Grenze zur Ukraine abgezogen. „Das ist ein gutes Zeichen, und wir hoffen, dass noch weitere folgen.“
Das war am 15. Februar 2022. Ein paar Tage später war klar, wie sehr Scholz sich getäuscht hatte. Am 21.Februar erkannte Russland die Pseudo-Republiken Donezk und Luhansk als unabhängig an – ukrainisches Land, seit 2014 in der Hand moskauhöriger Kämpfer. Am 24. Februar die Invasion. Der Chef des Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, musste in Sicherheit gebracht werden: Deutschlands oberster Späher hielt sich ahnungslos in Kiew auf.
An diesem 24. Februar platzte die Illusion gemeinsamer Sicherheit. Putin zerfetzte die Nato-Russland-Grundakte, die Normen des Europarats und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Die Vorstellung, Russland werde seine Gaskunden nicht erpressen, war genauso verfehlt. Aber das sah die Bundesregierung erst Monate später ein.
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Precht: „Wie man sich täuschen kann“
Ganz weit daneben lagen westliche Geheimdienste mit ihrer Einschätzung des russischen Militärs. Aber so ging es wohl auch Putin selbst. Sein Generalstab hielt 190 000 Mann für ausreichend, um im zweitgrößten Land Europas die Hauptstadt Kiew einzunehmen und die Regierung zu stürzen. Der Philosoph Richard David Precht spricht für viele, wenn er seinen damaligen Eindruck zusammenfasst, „dass es sich nicht lohnt, sich zu verteidigen, wenn der Krieg in ein, zwei Wochen verloren ist“. Precht dazu im November: „Man kann sehen, wie man sich täuschen kann.“
In der Tat. Der Krieg werde nur wenige Tage dauern – davon seien US-Regierungsbeamte ebenso ausgegangen wie die Russen, bilanzierte im November der US-Analyst Mason Clark. Die USA hatten für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj anfangs nur das Angebot übrig, ihn sicher aus Kiew herauszubringen. Selenskyj lehnte bekanntlich ab. Mehrere Mordanschläge russischer Agenten auf ihn sollen gescheitert sein.
Der unterschätzte Selenskyj
Überhaupt Selenskyj. Zu den ganz großen Fehlern aller Seiten gehörte es, ihn zu unterschätzen. Ihn, den russischsprachigen Komödianten, der lange im Verdacht stand, eigentlich sei er ein Freund Moskaus. „Ich werde permanent mit Ihnen in Verbindung stehen“, versprach er seinen Bürgern am Abend des Überfalls. Das machte er wahr, Tag um Tag. Man erlebe einen „Krieg gegen Europa“, sagte Selenskyj am 25. Februar, am zweiten Kriegstag, und warf den europäischen Regierungen Zaudern vor. Bei diesem Duktus – das eigene Volk ermutigen, westliche Politiker unter Druck setzen – ist er geblieben.
Er hat nicht zugelassen, dass der militärische Druck sein Land isoliert. Er empfängt westliche Besucher. Er fährt in die Frontstadt Cherson, in die Hölle von Bachmut, während Putin sich allenfalls auf die Krim vorwagt. Mitten im Krieg fliegt er nach Washington, ein Husarenstück, mit dem er die Unterstützung der Ukraine auch angesichts der durch die US-Zwischenwahlen veränderten Mehrheitsverhältnisse im Repräsentantenhaus sichern möchte.
Anfang Dezember wählte das US-Magazin „Time“ Selenskyj als Person des Jahres aus. Das sei nicht gerecht, meinte der ukrainische Journalist Illia Ponomarenko: Der Titel gebühre dem ganzen ukrainischen Volk. Und in der Tat, in diesem Volk hatten sich die russischen Geheimdienste „meilenweit geirrt“, wie ein US-Regierungsbeamter der „Washington Post“ sagte. Russland diffamierte die Ukrainer ebenso wie ihren jüdischen Präsidenten als Nazis, gab die Parole der „Entnazifizierung und Demilitarisierung“ des Nachbarlandes aus. Aber auch mit Razzien, Folter und Morden bekommen die Besatzer den Widerstand nicht in den Griff – von der Partisaneneinheit bis zur Rentnerin, die die ukrainische Armee über eine russische Stellung informiert.
Butscha war kein Einzelfall
Russlands Kriegserfolge sind rar. Die rasche, wohl durch Kollaborateure ermöglichte Besetzung eines Küstenstreifens im Süden, die Einnahme von Mariupol am 20. Mai, die von Sjewjerodonezk und Lyssytschansk im Sommer. Aber schon im April mussten sich Putins Truppen unter schweren Verlusten aus der Region Kiew zurückziehen. Dann im September der Zusammenbruch der Besatzungsherrschaft südlich von Charkiw. Der ukrainische Sieg in Lyman. Zuletzt, Anfang November, der russische Rückzug aus der Stadt Cherson und ihrem Umland.
In den befreiten Kiewer Vororten fanden die Ukrainer Hunderte Leichen ermordeter Zivilisten, allein 419 in Butscha. Frauen wurden vergewaltigt, Kinderleichen weisen Spuren schwerer Sexualverbrechen auf. Das Grauen fand bei Charkiw und Cherson seine Fortsetzung. Das Signal für all das hatte Putin schon am 8. Februar gegeben, als er gegenüber dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron ein russisches Lied zitierte, das eine Vergewaltigung feiert: „Ob's dir gefällt der nicht, du wirst dich fügen müssen, meine Schöne!“
Das russische Militär mag Städte niederlegen und Kraftwerke zerstören, es bekommt die Ukrainer nicht mürbe. Deren Armee hat auch keine Probleme, Nachwuchs zu gewinnen. Nato-Staaten helfen bei der Ausbildung und liefern Waffen. In Deutschland hielt Bundeskanzler Olaf Scholz drei Tage nach dem russischen Einmarsch seine „Zeitenwende“-Rede. 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr, eine SPD-Wende um 180 Grad. Aber erst nach Aufdeckung des Massakers von Butscha entschloss Berlin sich, der Ukraine auch schwere Waffen zu liefern. Kurz vor Kriegsbeginn hatte sich Verteidigungsministerin Christine Lambrecht noch mit dem Geschenk von 5000 Helmen lächerlich gemacht. Selbst die USA gaben erst Zug um Zug immer stärkere Waffen frei, zuletzt im Dezember Patriot-Luftabwehrsysteme.
Sorgen in der Nato
In vielen Nato-Staaten ist die Sorge unverkennbar, in den Krieg hineingezogen zu werden. Nach Angaben von US-Regierungsvertretern sind die für die Ukraine so wichtigen Himars-Raketenwerfer sogar so umgebaut worden, dass sie keine weitreichende Munition verschießen könnten, selbst wenn Kiew die irgendwoher bekäme. Scholz griff dunkle russische Nuklear-Drohungen auf und warnte vor einer atomaren Eskalation. Darum ist es deutlich ruhiger geworden, zumal der große Nachbar China öffentlich sein Missfallen bekundet hatte.
Dem Krieg vorausgegangen war die ultimative Forderung an die Nato, den bewaffneten Schutz ihrer osteuropäischen Mitglieder zu beenden. Erreicht hat Putin das Gegenteil, und die Nato wird, wenn die Türkei endlich beidreht, um Finnland und Schweden wachsen. Den EU-Staaten imponierte das Abdrehen des Gashahns nicht. Sie fanden zu neuer Einigkeit gegen den ungarischen Putin-Versteher Viktor Orbán.
Der „offene Brief“ einer Gruppe um Precht und Alice Schwarzer gegen Waffenlieferungen erntete zwar knapp 500 000 Unterschriften, und in deutschen Umfragen werden zunehmend Verhandlungen über ein Kriegsende gewünscht. Aber die meisten Deutschen sind weit davon entfernt, Ex-Bischöfin Margot Käßmann zuzustimmen, die meinte, die Tatsache von Vergewaltigungen durch russische Soldaten dürfe „nicht missbraucht werden, um Waffenlieferungen zu rechtfertigen“.
Je heikler die Lage für ihn wurde, desto mehr hat Putin eskaliert: im September die bizarre Annexion ukrainischer Gebiete, die Russland auch damals nur teilweise kontrollierte, dann die Teilmobilmachung von – angeblich nur – 300 000 Reservisten. Damit endete sein Pakt mit den russischen Bürgern, alle in Ruhe zu lassen, die nicht aufmuckten: Der Krieg kann jede Familie treffen. Über 10 000 russische Gefallene waren nach einer BBC-Zählung Anfang Dezember namentlich bekannt, davon 430 frisch Mobilisierte. Berichte über deren unzureichende Ausbildung und Ausstattung kursieren durchs Netz – ebenso wie über spektakulär inszenierte ukrainische Militärschläge von der Versenkung der „Moskwa“ im April bis zum Angriff auf Militärflughäfen tief im russischen Binnenland.
Gibt es einen Ausweg für Putin?
Er wolle helfen, einen Ausweg für Putin zu finden, hatte US-Präsident Joe Biden im Oktober gesagt. Aber wie? Für die Ukraine schließt die grausame Besatzungspolitik eine Lösung nach dem Muster „Land gegen Frieden“ aus. Anders als in Russland wächst hier die Zustimmung zur militärischen Lösung. Nach Angaben des ukrainischen Rating-Instituts forderten Anfang November 85 Prozent von 1000 Befragten, den Krieg bis zur Rückeroberung auch der Krim und des gesamten Donbass weiterzuführen – im März waren es 74 Prozent. Selenskyj müsste da schon gewaltige Überzeugungsarbeit leisten, um auch nur eine Beschränkung auf die Waffenstillstandslinie von 2014 durchzusetzen. Putin wiederum hat durch seine Annexionen jede derartige Lösung vom Tisch gefegt. Das Kreml-Mantra lautet, Friedensverhandlungen setzten die Abtretung der von Moskau beanspruchten Gebiete voraus. Also liege es an der Ukraine, dass nicht verhandelt werde – diese Darstellung richtet sich an den Westen genauso wie ans eigene Volk. Deuten doch vom russischen Exil-Portal „Meduza“ durchgestochene interne Umfragen auf Kriegsmüdigkeit hin.
Nur hat Putin eben die liberale Opposition und ihre Medien mundtot gemacht, nicht aber nationalistische Blogger, die immer offener die Kompetenz der Militärführung in Frage stellen. Der Söldnertruppe „Gruppe Wagner“ und den Kämpfern des tschetschenischen Machthabers Ramsan Kadyrow gewährt Putin weitgehend freie Hand. Was bedeutet das für seine Macht? Was passiert, wenn die Ukraine durch eine Offensive bei Saporischschja die Verbindung zur Krim unterbrechen sollte? Militärisch wäre das wohl der entscheidende Schlag. Und was, wenn Putin den aberwitzigen Versuch unternehmen sollte, von belarussischem Territorium aus einen neuen Vorstoß auf Kiew zu führen? Könnte ein russisches Desaster im Machtkampf münden? Wird, wie der britische Militärhistoriker Lawrence Freedman hofft, ein Technokrat Putin ablösen und die Kohlen aus dem Feuer holen? So oder so sieht es danach aus, dass der Krieg noch monatelang dauern wird, bis sich ein Fenster zu Verhandlungen öffnet.
Autokraten im Aufwind
Wer immer den Krieg verliert, einer hat ihn schon gewonnen: der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan. Sperrung des Bosporus, Drohnen für die Ukraine, aber auch: Blockade der Nato-Erweiterung, Nein zu westlichen Sanktionen – der Nato-Staat Türkei betreibt eine Schaukelpolitik und profiliert sich als Vermittler etwa für Getreideabkommen oder Gefangenenaustausch. Im Windschatten führt er seine eigene militärische Offensive gegen Kurden in Syrien und im Nordirak und bereitet unter anderem durch ein von seiner Justiz verhängtes Willkürurteil gegen seinen wichtigsen Konkurrenten Ekrem İmamoglu seine Wiederwahl vor.
Profiteur Nummer zwei ist das islamistische Regime des Iran. Es beliefert Russland mit Drohnen und Raketen, mit hoher Wahrscheinlichkeit sind auch iranische Instruktoren vor Ort auf der Krim. Russland soll dafür bisher 140 Millionen Euro gezahlt haben – wichtiger für Teheran ist aber sicher, dass man jetzt in heikler Zeit ein Zweckbündnis hat schmieden können. Einerseits muss der Iran mit Militärschlägen der USA und Israels rechnen, wenn er sein Atomprogramm tatsächlich bis zur Entwicklung einer Bombe weitertreiben sollte. Andererseits halten seit dem Tod der jungen Kurdin Mahsa Amini im Polizeigewahrsam (vermutlich am 16. September) quer durch alle Regionen und Volksgruppen Proteste gegen das Regime an.
Gespalten ist die Bilanz für China. Einerseits muss das Regime in Peking aus dem Russland-Ukraine-Krieg wohl die Lehre ziehen, dass auch ein Angriff auf Taiwan begrenzte Erfolgsaussichten hätte und eine scharfe westliche Reaktion auslösen würde. Andererseits übernimmt China nun wohl endgültig die frühere Rolle der Sowjetunion als der zweiten großen Supermacht, Konkurrentin, aber auch Sicherheitspartnerin der USA. Russland hat diese Rolle nie ausfüllen können und ist sie nun los: Gab es am Rande der Olympischen Winterspiele noch Freundschaftsbekundungen, so rückte Peking später von Moskau ab. Der britische Journalist Owen Mattews berichtet über Gespräche zwischen China und den USA samt ihren Nato-Partnern. Wegen dieser Gespräche soll die Nato davon abgesehen haben, die Ukraine Kampfflugzeuge zu liefern, während China das Russlands Nukleardrohungen stoppte.