Die Zahl der Kirchenaustritte hat 2022 einen neuen Rekordwert erreicht – auch auf evangelischer Seite. Was ist passiert und was hat die evangelische Kirche in Krisenzeiten zu sagen? Fragen an den rheinischen Präses Thorsten Latzel.
Präses Latzel zur Zukunft der evangelischen Kirche„Wir sollten uns nicht kleiner reden, als wir sind“
Das höchste christliche Fest steht bevor, aber nicht einmal mehr die Hälfe der deutschen Bevölkerung gehört einer der großen Kirchen an. Was – außer Süßwaren – kommt da von Ostern noch bei den Leuten an?
Das Osterfest hat weiterhin für viele Menschen eine grundlegende Bedeutung. Wir leben in einer Zeit der Poly-Krisen: Krieg in der Ukraine, Corona, Teuerung. Umso wichtiger ist dieses Fest der Hoffnung für viele: Gott lässt dem Tod nicht das letzte Wort. In Christus haben wir teil an einem neuen Leben! Dennoch schmerzen uns die Austrittszahlen natürlich. Austritte gehen oft mit Kontaktverlust einher. Und sie schwächen uns als Kirche bei unserer Aufgabe, für andere da zu sein. Aber auch mit dem Austritt ist der christliche Glaube für viele nicht erledigt. Ich glaube, es gibt im Gegenteil einen großen Wunsch nach Hoffnung, nach etwas, was dem eigenen Leben Sinn und Halt gibt.
Allein Ihre rheinische Landeskirche hat im letzten Jahr über 45.000 Mitglieder verloren, 12.000 mehr als im Jahr davor. Was ist da passiert?
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Ja, das beschäftigt uns sehr. Es gibt verschiedene Gründe. Einer davon ist die Teuerung, manche Menschen sehen bei der Kirchensteuer eine der wenigen Möglichkeiten zu sparen. Und wenn es nicht mehr selbstverständlich ist, in einer Kirche zu sein, ändert das die Einstellung. Als Kirche haben wir an gesellschaftlicher Relevanz verloren. Auch an Vertrauen, insbesondere durch Fälle sexualisierter Gewalt in der Kirche. Die Corona-Pandemie hat bei uns, wie in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen, zu Kontaktverlust geführt. Umso wichtiger ist es, dass wir die Menschen erreichen und dafür neue Formen finden. Und wir sollten uns nicht kleiner reden, als wir sind. Allein die rheinische Kirche hat mehr als 2,2 Millionen Mitglieder, mehr als alle Parteien zusammen. Mehr als 90.000 Menschen engagieren sich regelmäßig ehrenamtlich, wir tragen 800 Kitas. Auch wenn die Mitgliederzahl abnimmt, wir leben unseren Glauben und sind für andere da.
Sexuelle Gewalt: „Das widerspricht allem, woran wir glauben“
Ich hake mal beim Thema sexualisierte Gewalt ein. In der katholischen Kirche gibt es dazu zahlreiche Studien. Bei der evangelischen Kirche sind sie noch in Arbeit. Was rollt da auf Sie zu?
Das Thema bewegt uns stark und wird uns noch lange begleiten. Wir tun präventiv alles uns Mögliche dagegen, mit Schulungen, Schutzkonzepten, Anlaufstellen, Führungszeugnissen. In der EKD wird es in diesem Jahr eine erste bundesweite Studie geben, danach folgen weitere regionale Untersuchungen. Schon heute läuft eine Studie über das Alumnat Martinstift in Moers, Fälle aus den 1950er Jahren, die bisher nie mit den Betroffenen aufgearbeitet wurden. Uns ist dabei die Sicht der Betroffenen wichtig. Menschen haben ein Anrecht darauf, dass wir das aufarbeiten. Sexualisierte Gewalt ist zwar ein gesamtgesellschaftliches Problem, auch in Schulen, Sportvereinen, im familiären Umfeld. Aber es betrifft uns als Kirche noch einmal besonders. Weil Menschen, die Hilfe für ihre Seele erfahren sollten, an Körper und Seele verletzt worden sind. Das widerspricht allem, woran wir glauben.
Die Aufarbeitung auf regionaler Ebene hat viele katholische Bistümer geradezu zerrissen, Köln etwa, München oder Osnabrück. Steht Ihnen Ähnliches bevor?
Ich kann nur für uns sprechen. Wir wollen das für das Rheinland konsequent aufarbeiten. Nun haben wir kein Weihepriestertum, keinen Zölibat, eine andere Sexualmoral, Ämter sind für Frauen offen. Daher unterscheidet sich unsere Situation von der in der katholischen Kirche. Die EKD-Studie wird breiter ansetzen, zum Beispiel auch die Diakonie in den Blick nehmen. Nach unserer bisherigen Kenntnis haben wir kein spezifisches Pfarrerinnen- oder Pfarrerproblem, sexuelle Übergriffe gab es ebenso im Bereich des Ehrenamtes und bei anderen Mitarbeitenden. Wir müssen eine Kultur entwickeln, in der so etwas nicht passiert, auch wenn man es niemals wird ganz ausschließen können. Das ist eine tiefe Wunde. Wir können Betroffene nur um Entschuldigung für das bitten, was sie erleiden mussten.
Der Fall Lindner: Kirchliche Trauung trotz Kirchenaustritt?
Sie sprachen vorhin vom Kontaktverlust. Welche Chancen gibt es, den Kontakt wiederherzustellen?
Unser Auftrag ist es, von Gottes Liebe zu sprechen, Menschen Trost und Hoffnung für ihr Leben zu geben. Das tun wir, auch in einer sich rasant verändernden Gesellschaft. Die Mobilität ist höher, wir kommunizieren permanent digital, die Zeitrhythmen sind vielfältiger. Ist da der 10-Uhr-Gottesdienst am Sonntag noch das richtige Angebot? Brauchen wir nicht Gottesdienste am Sonntagabend oder am Freitag? Wie erreichen wir Menschen über Social Media? Machen wir wieder Hausbesuche, gerade wenn in der Corona-Pandemie viele Menschen vereinsamt sind? Wie begleiten wir Menschen in ihrem Leben: bei kirchlichen Anlässen wie Taufe, Trauung, Trauerfeier ebenso wie der Einschulung, dem Schulabschluss oder in ihrer Partnerschaft? Hier sind viele Gemeinden sehr kreativ unterwegs.
Gutes Stichwort. Christian Lindner und seine Frau sind getauft, aber keine Kirchenmitglieder. Trotzdem durften sie kirchlich heiraten, das gab eine Riesendiskussion. Was würden Sie in so einem Fall machen?
Nun, erst einmal ist die Taufe eine unwiderrufliche Zusage Gottes. Ausgetretene sagen häufig, dass sie nur die Kirche, nicht den christlichen Glauben verlassen wollen. Das ist natürlich schwierig, denn dieser Glaube wird ja in der Gemeinschaft gelebt. Aber die Taufe bleibt, sie sind weiter Glieder am Leib Christi.
Und wenn sie dann um die kirchliche Amtshandlung bitten?
Nach unserer Kirchenordnung im Rheinland muss mindestens ein Ehepartner Mitglied der evangelischen Kirche sein. Der Austritt wird hier ernstgenommen. Zugleich gibt es die persönliche Bitte um Begleitung durch einen Segen. Die Pfarrerin der Nordkirche hat in dem konkreten Fall mit Herrn Lindner und seiner Frau ein ernsthaftes, seelsorgliches Gespräch geführt und dann entschieden, ihre Bitte zu erfüllen. Jetzt wäre es sicher gut, diesen Kontakt aufrechtzuerhalten. Vielleicht spricht sie die beiden nach einem Jahr noch mal an. Man kann ja auch wieder in die Kirche eintreten. Das würde ich den beiden wünschen. Und Gottes Geist hat einen langen Atem. Wir werden uns genau solchen Fragen, also dem sogenannten Lebensordnungsgesetz, bei unserer nächsten Synode im Januar 2024 widmen.
Wir leben in einer Krisenzeit, in der Vergangenheit hätte man erwartet: Dann sind die Kirchen voll. Spüren Sie etwas davon?
Wenn Sie fragen, ob Not beten lehrt, antworte ich: Ja, wenn man schon beten kann. Wenn man es nie gelernt hat, ist es schwieriger. Wir sind in dieser Zeit vielfacher Krisen gefragt, Hoffnung, Halt, ethische Orientierung zu geben. Das tun wir. In der Corona-Pandemie etwa in vielen seelsorglichen und diakonischen Begegnungen. Oder jetzt angesichts des Krieges gegen die Ukraine mit konkreter Hilfe für Geflüchtete. Es gibt aber auch im religiösen Bereich einen Populismus mit simplen Antworten auf schwierige Fragen. Die geben wir nicht. Wir nehmen Menschen ernst und suchen gemeinsam Antworten.
Soll man Waffen in die Ukraine liefern?
Im Ergebnis kommen Theologen zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen, etwa, ob man Waffen in die Ukraine liefern sollte …
Ja, aber gemeinsam ist allen das unbedingte Eintreten für den Frieden. Für den Weg dorthin gibt es unterschiedliche Antworten. Was tun wir, wenn ein Autokrat einen brutalen Angriffskrieg führt, selbst die völkerrechtlichen Regeln im Krieg verletzt, zum Dialog überhaupt nicht bereit ist? Meine persönliche Antwort ist: Es ist notwendig, diese Gewalt einzuhegen.
Sie persönlich halten die Waffenlieferungen also für legitim?
Ja, das ist meine verantwortungsethische Position. Das Völkerrecht gibt dem angegriffenen Land und der internationalen Gemeinschaft das Recht, zur Eindämmung von Gewalt selbst rechtsetzende Gewalt auszuüben. Nur so können wir noch größeres Leid verhindern. Deshalb halte ich Waffenlieferungen für legitim, auch wenn ich weiß, dass auch dadurch Menschen sterben. Zugleich müssen wir uns um Verhandlungen bemühen, auch wenn das Gegenüber sich diplomatischen Bemühungen im Augenblick verschließt. Gewaltanwendung kann immer nur die letzte Möglichkeit sein. Im unbedingten Streben nach Frieden bin ich mir auch mit Pazifisten einig.
Letztes Thema. Je geringer der Anteil der Christen an der Bevölkerung wird, desto intensiver wird über das Verhältnis von Staat und Kirche diskutiert. Die Staatsleistungen etwa, die Finanzierung Theologischer Fakultäten …
Nach wie vor stimmt das Diktum von Ernst Wolfgang Böckenförde: Der freiheitlich, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen kann. In den letzten 70 Jahren hat sich das Miteinander von Staat und Kirchen sehr bewährt. Mit Diakonie und Caritas gehören wir zu den größten Arbeitgebern in Deutschland. Wir brauchen keine Religion, in der es nur um das private Seelenheil geht und die sich von der Gesellschaft abschottet. Wir suchen vielmehr gut biblisch „der Stadt Bestes“. Die Orientierung am Gemeinwohl ist Teil unseres christlichen Glaubens. Davon, dass Menschen sich so einbringen, lebt auch der Staat. Es gibt von politischer Seite dafür viel Unterstützung, auch wenn wir kleiner werden.
Aber kirchliche Krankenhäuser werden überwiegend von Staat und Krankenkassen bezahlt. Warum verlangen die Kirchen da ein eigenes Arbeitsrecht?
Das verlangen wir nicht, das ist geltendes Recht. Übrigens ist zum Beispiel eine kommunale Kita für den Steuerzahler viel teurer als eine kirchliche. Und in Krankenhäusern bringen wir ein hohes Maß an Seelsorge ein, ebenso in Schulen, Telefon- und Notfallseelsorge. Kirchliches Arbeitsrecht bedeutet einfach, dass wir als Arbeitgeber uns gemeinsam mit den Arbeitnehmern um Lösungen bemühen.
Die Ampelkoalition stellt auch die bisherige Regelung der Schwangerschaftsabbrüche in Frage. Beleg für ein Schwinden christlicher Positionen?
Das würde ich so nicht sagen. Es gibt zwei zentrale Anliegen: einerseits den Schutz des menschlichen Lebens von Anfang an. Deutlich wahrnehmbar etwa, wenn der Herzschlag des Ungeborenen zeigt: Da ist Leben. Andererseits, und das ist lange missachtet worden, das Selbstbestimmungsrecht der Frau. Bisher sind wir zudem als Gesellschaft nicht hinreichend familienfreundlich. Wir werden weiter einen klaren juristischen Schutz brauchen, aber wie wir den leisten können, das zu klären, bleibt eine Aufgabe. Das Juristische ist aber nur ein Teilaspekt. Zentral ist die Frage: Wie schaffen wir eine Gesellschaft, in der es gut möglich ist, mit Kindern zu leben?
Suchen Politiker in solchen Fragen Ihren Rat?
Natürlich ist die Situation anders als den 1960er, 1970er Jahren. Aber die Kirchen mit über 40 Millionen Mitgliedern sind immer noch die größte Glaubensgemeinschaft dieses Landes, und da bringen wir uns konsequent ein mit unserer Perspektive des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. Gerade bei Fragen um Anfang und Ende des menschlichen Lebens wird das auch stark nachgefragt.