Köln – Was geschah am 29. Oktober 2020? An jenem Tag, an dem die Spitze des Erzbistums Köln die einhellige Zustimmung des Betroffenenbeirats dafür erhielt, ein Gutachten der Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) zum Umgang mit sexualisierter Gewalt nicht zu veröffentlichen – und statt dessen die Kölner Kanzlei Gercke Wollschläger mit einer neuen Ausarbeitung zu beauftragen. Am Folgetag verkündeten Erzbistum und Beirat diese Entscheidung gemeinsam, und das führte zu einer Spaltung im Betroffenenbeirat und zu einer erbitterten Diskussion, die bis heute anhält.
„Mir fehlen die Worte“ – so reagiert die Kölner Gemeindereferentin Marianna Arndt auf ein Interview, das der frühere Sprecher des Gremiums, Peter Bringmann-Henselder, der Rundschau zu dem Thema gegeben hatte. Sie erhebt bittere Vorwürfe gegen die Bistumsleitung, die ihrer Verantwortung nicht gerecht werde und die Spaltung der Betroffenen zu verantworten: „Durch diese Spaltung kommt es zu neuen Traumatisierungen.“ Auch Patrick Bauer, Bringmann-Henselders Vorgänger im Sprecheramt, hat nun Stellung genommen. Was wissen wir also?
Die Vorgeschichte
Am 12. Februar 2020 versprach der damalige Kölner Generalvikar Markus Hofmann im Rundschau-Interview, das WSW-Gutachten werde im März vorgestellt: „Und da werden auch Namen genannt, da gibt es kein Tabu.“ Die Vorstellung kam bekanntlich nie zustande: Erst sagte das Erzbistum den März-Termin ab. Dafür gelangten im Sommer Details des WSW-Gutachtens an die Öffentlichkeit, die den heutigen Hamburger Erzbischof Stefan Heße, früher Personalchef und danach Generalvikar in Köln, schwer belasteten – es ging dabei um sein Verhalten im Fall des später zu zwölf Jahren Haft verurteilten Pfarrers Hans-Bernhard U. Auch wenn es offiziell nie bestätigt wurde, sollen Heße und mindestens ein weiterer hoher Geistlicher dem Erzbistum Köln mit rechtlichen Schritten gedroht haben. Noch am 9. Oktober erhielten Betroffenenvertreter keine belastbare Auskunft der Bistumsleitung darüber, was mit dem WSW-Gutachten nun geschehen solle: „So ungefähr“, lautete nach Patrick Bauers Erinnerung die Antwort von Hofmann auf die Frage, ob die Untersuchung noch in München liege.
Die kurzfristige Einladung
Am 20. Oktober, so Bauer, kam dann die Anfrage des Erzbistums nach einer kurzfristigen Sitzung des Betroffenenbeirats für den 29. Oktober, auf Punkt 1 der Tagesordnung „Informationen zu einem aktuellen Fall“, auf Punkt 2: „Weitergang der Untersuchung aus München“. Bauer bat vergeblich, schon wegen der Corona-Lage auf den nächsten regulären Termin am 2. November zu warten – das ging laut Erzbistum nicht, da zwei benötigte Fachleute nur am 29. Oktober Zeit hätten. Schließlich erschienen sieben von neun Beitratsmitgliedern zu der Sitzung (wir berichteten).
Der Verlauf der Sitzung
„Ich brauche ihre Hilfe“ – mit diesen Worten eröffneter Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki nach Bauers Angaben die Sitzung. „Ich muss eine Entscheidung fällen, und sie fällt mir so schwer.“ Im Anschluss ging Generalvikar Hofmann auf die Medienberichterstattung über den Fall U. ein: Man habe die Akten noch einmal durchforstet und sei auf das Faktum gestoßen, dass das Erzbistum U. sogar eine Geldunterstützung gezahlt habe. Davon sei in einem WSW-Sondergutachten zu dem Fall keine Rede gewesen – und die Münchner Kanzlei habe auch eine handschriftliche Notiz Heßes über ein Gespräch mit U. nicht transkribieren lassen. WSW seine Arbeit dann nachgebessert und zwei vom Erzbistum beauftragen Juristen vorgelegt. Am 23. August, so Hofmann damals, kamen beide zu dem Schluss, es sei nichts Wesentliches verbessert worden. Dann habe man den Kölner Strafrechtler Björn Gercke mit einer Prüfung beauftragt. Dessen Urteil: Das WSW-Gutachten sei unbrauchbar. Gercke habe daraufhin den Auftrag erhalten, eine vollständige Neufassung zu erarbeiten. Gercke und seine Kollegin Kerstin Stirner kamen in der Sitzung ebenso zu Wort wie der Frankfurter Strafrechtler Matthias Jahn, der das WSW-Gutachten ebenfalls geprüft hatte. Zentrale Kritikpunkte: Das Gutachten greife willkürlich nur 15 Fälle heraus, sei terminologisch nicht präzise und damit (so Jahn) insgesamt nicht „gerichtsfest“. Stirner: „Das eigentliche Ziel des Gutachtens, das Unrecht öffentlich anzuerkennen, könne das WSW-Gutachten nicht leisten“.
Die Entscheidung
Am Ende unterstützten alle sieben anwesenden Mitglieder des Betroffenbeirats die Trennung von WSW und die Neuvergabe des Gutachterauftrags. Diese Einstimmigkeit ist bemerkenswert, denn später, beim Meinungsaustausch über die ARD-Dokumentation „Echtes Leben – missbraucht“, wurden unterschiedliche Positionen zur Aufarbeitung deutlich: Während Bauer den Film „sehr gelungen“ nannte, hielt Bringmann-Henselder den Beitrag für tendenziös.
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Hätte Kardinal Woelki anders gehandelt, wenn die Betroffenen eine Veröffentlichung des WSW-Gutachtens verlangt hätten? Bringmann-Henselder ging im Rundschau-Gespräch davon aus, dass Woelki sich dem gebeugt hätte. Ein vom „Kölner Stadt-Anzeiger“ zitiertes Strategiepapier der Krisen-PR-Agentur Ewald und Rössing setzte allerdings voraus, dass das Erzbistum das WSW-Gutachten auf keinen Fall würde veröffentlichen können – auch wenn die Betroffenen dies verlangten. Die Bistumsvertreter hatten allerdings in der Sitzung vom 29. Oktober auch nicht den Eindruck erweckt, die Betroffenen hätten dies zu entscheiden.
Die Bistumsvertreter hatten aber in der Sitzung vom 29. Oktober auch nicht den Eindruck erweckt, die Betroffenen hätten dies zu entscheiden. Sie fragten die Betroffenen, „welches weitere Vorgehen sie dem Kardinal und dem GV (Generalvikar, d.Red.) in dieser Lage rieten“ – das klang nach einer ergebnisoffenen Beratung. Von Bauer kam schließlich der Vorschlag, die Entscheidung gemeinsam zu kommunizieren (das hatten die PR-Berater vorab als Idealszenario gesehen) und die Ausarbeitung Jahns und seines Kollegen Franz Streng zu veröffentlichen
Die Bewertung
Im Nachgang sieht sich Bauer instrumentalisiert. In seiner Erklärung begründet er das mit dem Zeitverlauf: Er und sein Kollege Karl Haucke seien nicht wie üblich in die Vorbereitung der Sitzung eingebunden gewesen. Bistumsleitung und externe Fachleute seien schon lange vorab mit dem WSW-Gutachten befasst gewesen, Generalvikar Hofmann habe bereits am 9. Oktober über die Aufträge an Gercke und Jahn Bescheid gewussst: „Die Bistumsleitung hatte mindestens 3 Monate Zeit, um sich mit der Entscheidung zu beschäftigen. – Wir hatten 2 Stunden.“ Das Gutachten von Jahn und Streng sei den Beiratsmitgliedern erst nach der Sitzung per Mail geschickt worden – und veröffentlicht habe das Erzbistum es nur auf seine, Bauers, Forderung hin. Das geht aus dem Protokoll auch hervor, Jahn selbst hatte wegen der möglichen Rufschädigung für die Kanzlei WSW hier Bedenken.
Interessanterweise wiederholt Bauer nicht den in vielen Medien erhobenen Vorwurf, Woelki und Hofmann seien einem Drehbuch der PR-Agentur gefolgt. Aber er schreibt: „Selbst wenn der Verlauf der Sitzung nicht von der Beratungsfirma geplant war, so war doch alles darauf ausgelegt uns im Vorlauf der Sitzung im Unklaren zu lassen, uns zu beeinflussen und zu einer klaren, schnellen und im Sinne der Bistumsleitung lautenden Endscheidung zu führen.“
Es sei darum gegangen, „Betroffenen für die Interessen der Bistumsleitung zu gewinnen“ – während Gutachterin Stirner ja gerade mit den Interessen der Betroffenen argumentiert hatte: Durch die Angreifbarkeit und mangelnde Gerichtfestigkeit des WSW-Gutachtens sei „für die Betroffenen immer noch kein endgültiger Abschluss möglich“.
Kardinal Woelki selbst hat Anfang 2021 im Rundschau-Interview Fehler eingeräumt und dabei auch den Zeitdruck erwähnt, unter dem die Betroffenen standen. Die Entscheidung über das WSW-Gutachten „hätten wir als Erzbistum allein vertreten müssen, anstatt dem Angebot von Betroffenenvertretern nachzukommen, mit dafür einzustehen“, sagte er, und: „Und wir hätten darauf dringen müssen, dass auch die Betroffenenvertreter mehr Zeit haben, darüber nachzudenken, ob eine neue Kanzlei beauftragt werden soll. Einmal darüber schlafen, das wäre gut gewesen.“