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Der kranke Mann in der Downing StreetJohnson schaut trotz Misstrauensvotum nach vorne

Lesezeit 4 Minuten

Bei einer Kabinettssitzung zeigte sich Boris Johnson gestern wieder selbstbewusst.

London – Zwei Tage nach den Paraden und Straßenfesten anlässlich des 70. Thronjubiläums der Queen zierten gestern immer noch kleine Wimpel, bedruckt mit dem Muster des „Union Jacks“, das britische Regierungsgebäude in der Downing Street 10. Zum Feiern war Boris Johnson allerdings sicherlich nicht zumute. Schließlich hatte der 57-jährige Politiker am Vorabend die größte Schlappe seiner politischen Karriere erlebt.

Der britische Premierminister konnte das kurzfristig angesetzte Misstrauensvotum gegen ihn am Montagabend nur knapp für sich entscheiden. 41 Prozent der konservativen Abgeordneten sprachen sich dafür aus, dass er geht. Das Ergebnis übertraf die schlimmsten Befürchtungen seiner Unterstützer und lässt den konservativen Parteichef „verwundet“ zurück, wie die britische Tageszeitung „i“ gestern titelte. Er sei nun „der kranke Mann in der Downing Street“. Die sonst regierungsfreundliche britische Tageszeitung „The Daily Mirror“ schrieb: „Die Party ist vorbei, Boris“ und „die Uhr tickt“.

„Sehr gutes“ Ergebnis für Johnson

Boris Johnson selbst wollte davon nichts wissen. Er gab sich gestern gewohnt kämpferisch und bezeichnete das Ergebnis als „sehr gut“ für die Politik und für das Land. Es bedeute, dass sich die Regierung endlich auf die Dinge konzentrieren könne, die für die Menschen wirklich wichtig seien. Dabei bezog er sich unter anderem auf die steigenden Lebenshaltungskosten und den Angriffskrieg Russlands in der Ukraine. Justizminister Dominic Raab äußerte sich ähnlich: „Das Wichtigste ist, dass wir das Ergebnis akzeptieren und weitermachen.“

Nach einem Weiter-so für Johnson sieht es Experten zufolge allerdings nicht aus. Im Gegenteil: Dass sich so viele Tories gegen ihn ausgesprochen haben, sei Ausdruck davon, dass ihn viele mittlerweile als untragbare Belastung für die Partei wahrnehmen, kommentiert die britische Tageszeitung „The Independent“.

Revolte gegen Johnson wird größer

Hinter den Kulissen von Westminster formiert sich eine immer größer werdende Revolte gegen den Premierminister. Seine Gegner wollen die Tatsache, dass er im Zuge des Misstrauensvotums für ein Jahr vor einer erneuten Abstimmung geschützt ist, nicht akzeptieren und zur Not die Regeln ändern, hieß es gestern.

Die regierungskritische Tageszeitung „The Guardian“ verwies außerdem darauf, dass es nach einem Misstrauensvotum erfahrungsgemäß nur eine Frage der Zeit sei, bis der Premierminister schließlich endgültig aus dem Amt gedrängt wird. Das habe man unter anderem im Fall von Theresa May gesehen, die eine solche Abstimmung Ende 2018 überstand, nur um rund fünf Monate später ihren Hut zu nehmen. Medien sprachen von einem „langsamen Tod“ Johnsons, „dem Anfang vom Ende“.

Debatten um Nachfolger laufen

Die Krise des Premierministers ist die Folge der Skandale um Partys in der Downing Street während des Lockdowns in den Jahren 2020 und 2021, von denen dieser erst nichts gewusst haben wollte und sie dann angeblich für Arbeitstreffen hielt, obwohl Fotos belegen, dass er dabei war und mitgefeiert hat.

Ex-Außenminister fordert Rücktritt

Der frühere Parteichef der britischen Konservativen, William Hague, hat Premierminister Boris Johnson zum Rücktritt aufgefordert. Der Regierungschef habe nicht mehr die Autorität, um seine Partei und das Land zu führen, schrieb der ehemalige Außenminister in einem Beitrag für die Tageszeitung „The Times“. Hague schrieb, Johnson solle nach einem „ehrenvollen Abgang Ausschau halten“. „Es wurden Worte gesagt, die nicht zurückgenommen werden können, Berichte veröffentlicht, die nicht gelöscht werden können, und Stimmen abgegeben, die ein höheres Maß an Ablehnung zeigen als jeder andere Tory-Chef je ertragen und überlebt hat.“ (afp)

Johnson entschuldigte sich zwar immer wieder für die Veranstaltungen, vermittelte Experten zufolge jedoch gleichzeitig, dass er eigentlich nichts falsch gemacht habe – und das, obwohl ihn die Mehrheit der Bevölkerung Umfragen zufolge als Lügner bezeichnete.

Als wäre dies nicht genug, wurden die Nerven der konservativen Abgeordneten während der Feierlichkeiten anlässlich des 70. Thronjubiläums der Queen weiter strapaziert. Als der Premierminister mit seiner Frau Carrie zu einem Dankes-Gottesdienst zu Ehren der Queen in der St. Paul’s-Kathedrale am vergangenen Freitag ankam, wurde der Jubel schnell von einer Welle von Buh-Rufen übertönt. Vor den Augen von Milliarden von Zuschauern weltweit.

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Dementsprechend lauter werden auch die Debatten um einen möglichen Nachfolger. Der vormalige Top-Kandidat, Finanzminister Rishi Sunak, ist vorerst aus dem Rennen. Er soll Steuern hinterzogen haben. Als Anwärter gelten unter anderem Außenministerin Liz Truss, Tom Tugendhat, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Unterhaus, sowie Verteidigungsminister Ben Wallace.