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„Eroberungsliste“ des KremlWarum Georgien und Moldau einen Angriff fürchten

Lesezeit 4 Minuten

  1. Im Kaukasus fürchten die Menschen einen Angriff Russlands wie in der Ukraine.
  2. Sehr präsent sind auch noch die Erinnerungen an 2008, als schon einmal die Panzer rollten.
  3. In Südossetien sehen sich Separatisten bereits im Aufwind.

Für Tina Chidascheli ist die Rechnung einfach. „Es besteht ein Zusammenhang zwischen dem Ausgang des Krieges in der Ukraine und der Zukunft des georgischen Staates“, erklärt die 48-Jährige, die bis 2016 Verteidigungsministerin in Tiflis war. „Es ist nicht zu erwarten, dass ein besiegter Wladimir Putin Georgien angreift“, sagt Chidascheli über den russischen Präsidenten. Genauso sicher ist sie aber, dass auch der Umkehrschluss zutrifft. „Sollte es anders kommen, wird der machthungrige Putin nach einem Sieg in der Ukraine nicht aufhören.“

Georgien und Moldau stünden dann ganz oben auf der Eroberungsliste des Kremlchefs. Deshalb sei vor allem die Nato gefragt, die potenziellen Opfer russischer Aggressionen zu unterstützen. „Es ist höchste Zeit für einschneidende Schritte“, mahnt die Ex-Ministerin, ohne konkret zu werden.

Chidascheli, die heute eine außenpolitische Denkfabrik leitet, teilt ihre Sicht mit den meisten ihrer Landsleute. Neun von zehn Menschen in Georgien sehen den großen Nachbarn im Norden als Bedrohung an. Auch die Regierung in Tiflis ist vorsichtig. Sie hat den russischen Überfall auf die Ukraine zwar zum Anlass genommen, ihren für 2024 geplanten Antrag auf EU-Mitgliedschaft vorzuziehen. Seit Anfang März gibt es nun konkrete Gespräche mit Brüssel über eine Beitrittsperspektive. Den westlichen Sanktionen gegen Russland schloss sich Georgien aber bislang nicht an. „Aus Angst, als Nächstes an der Reihe zu sein“, sagt der Politikwissenschaftler Gela Wasadse. Die Sorgen kommen nicht von ungefähr. Schließlich rollten 2008 schon einmal russische Panzer auf Tiflis zu.

Ein geostrategischer Gegner

Wer die aktuelle Konfliktlage verstehen will, muss daher zunächst zurückblicken. Vor 14 Jahren gab in Georgien der prowestliche, aber oft sprunghaft agierende Präsident Michail Saakaschwili den Ton an. Sein Ziel war ein schneller Nato-Beitritt, den Deutschland und Frankreich zunächst blockierten. Das änderte allerdings nichts daran, dass der Kreml in der Schwarzmeerrepublik einen geostrategischen Gegner sah.

Moskau begann, separatistische Milizen in den abtrünnigen georgischen Regionen Südossetien und Abchasien aufzurüsten. Zudem ließ Russland dort eigene Pässe an die Bevölkerung verteilen. Im August 2008 setzte Saakaschwili dann alles auf eine Karte. Er schickte Truppen nach Südossetien, ließ die Hauptstadt Zchinwali beschießen – und ging Putin damit in die Falle. Die russische Armee schlug Saakaschwilis Soldaten nicht nur zurück, sondern drang mit Panzern Richtung Tiflis vor. Nach acht Tagen Krieg kam der von Frankreich vermittelte Waffenstillstand einer georgischen Kapitulation gleich. Südossetien und Abchasien erklärten sich zu unabhängigen Republiken.

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Russland erkannte sie an und stationierte dort mehr als 10000 Soldaten. Georgien verlor faktisch die Kontrolle über 20 Prozent seines Territoriums. Am Ende ergab sich eine Situation, wie sie Putin heute als minimales Kriegsziel für die Ukraine ausgegeben hat. Dort erklärten sich die „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk für unabhängig.

Im Grunde habe Putin also seine zentralen Ziele in Georgien längst erreicht, erklärt die ehemalige Verteidigungsministerin Chidascheli: die dauerhafte Schwächung des Nachbarn, die Stationierung eigener Truppen auf fremdem Territorium und die Blockade eines georgischen Nato-Beitritts. Denn die transatlantische Allianz nimmt keine Staaten mit ungeklärten Gebietsfragen auf.

Spätestens seit der russischen Krim-Annexion 2014 herrscht in Tiflis aber die Sorge vor noch weitergehenden Plänen Putins. Wie begründet die Furcht ist, zeigt sich derzeit in Südossetien. Dort setzte der international nicht anerkannte Präsident Anatoli Bibilow Mitte Mai per Dekret ein Referendum über den Anschluss an Russland an. Geplanter Termin: 17. Juli.

Verwirrung um Referendum

„Wir gehen diesen schicksalhaften Schritt und kehren heim“, erklärte Bibilow und wiederholte für alle, die es nicht sofort verstanden: „Wir gehen nach Russland.“ Damit jedoch begann das Verwirrspiel erst. Denn Bibilow war, als er seinen Ukas unterzeichnete, nur noch geschäftsführend im Amt. Die Bevölkerung hatte ihn im April abgewählt.

Nachfolger Alan Gaglojew wurde allerdings erst nach Bibilows Dekret vereidigt. Der neue „Präsident“, ein ehemaliger Geheimdienstmann mit besten Beziehungen nach Moskau, hielt anfangs zwar an den Referendumsplänen fest. Er verzichtete aber auf Bibilows „Heim ins Reich“-Rhetorik. Vor wenigen Tagen kassierte er dann alles wieder ein. Zunächst werde man weitere Gespräche mit Russland über die weitere Integration Südossetiens führen.

In Tiflis sind sich die meisten Beobachter einig, dass der Kreml das Hin und Her geplant hat, um Georgien seine Folterinstrumente vorzuführen. Devise: Wenn ihr euch zu weit nach Westen vorwagt, können wir innerhalb kürzester Zeit mit einem Referendum und einer Annexion Südossetiens reagieren. Dass Putin auf eine schnelle Eskalation im Kaukasus abzielt, hält der Moskauer Politikwissenschaftler Andrei Kortunow allerdings für „unwahrscheinlich“. Eine zweite Front könne der Kreml derzeit nicht brauchen.