Julija Tymoschenko im Interview„Deutschland hat das Schicksal Europas in der Hand“
- Seit dem Angriffskrieg Russlands auf sein Nachbarland sind die Diskussionen um den EU-Beitritt und die Unterstützung mit Waffen allgegenwärtig.
- Julija Tymoschenko sieht Deutschland dabei trotz Kritik auf einem guten Weg.
Die ehemalige Ukrainische Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko gilt als eine führende Figur der prowestlichen „Orangenen Revolution“ von 2004 in der Ukraine. Mit Katrin Pribyl sprach die 61-Jährige über den Krieg, die Chancen auf eine EU-Beitritt der Ukraine und die Rolle Deutschlands.
Frau Tymoschenko, Sie sind erstmals seit der Invasion Russlands in die Ukraine wieder im Ausland unterwegs. Wie geht es Ihnen und wie blicken Sie auf die letzten drei Monate zurück?
Ich fühle einen allumfassenden, großen Schmerz angesichts so vieler Morde, toter Menschen, zerstörter Städte. Wir sind ein demokratisches europäisches Land, das viele Jahre in Frieden gelebt hat. Wir hatten nie Ambitionen hinsichtlich anderer Territorien oder Länder. Es gibt keine aggressive Seele. Und jetzt werden Ukrainer getötet. Es ist surreal. Ich kann noch immer nicht glauben, dass uns das passiert.
Sie setzen sich seit Jahren für einen EU-Beitritt der Ukraine ein. Sehen Sie jetzt die Chance gekommen?
Die Frage ist doch vielmehr, warum wir nicht schon lange Mitglied sind? Der Grund liegt darin, dass ein Teil der europäischen Staats- und Regierungschefs ihre Beziehungen zu Putin und Russland nicht beschädigen wollte. Aber meiner Meinung nach gibt es eine deutliche Verbindung zwischen dem Krieg und der Diskussion über den EU-Kandidatenstatus. Es handelt sich ja nicht um ein neues Ziel der Ukrainer. Sie bekunden schon lange klar ihren Willen, wieder Teil Europas zu werden. Das ist der Grund, warum Putin den Krieg begonnen hat. Wir sind das einzige Land, das heute mit dem Leben seiner Bürger und mit seinem Blut für den Wunsch bezahlt, in die europäische Heimat zurückzukehren.
In der EU bleiben die Meinungen gespalten.
Als die Massaker des russischen Militärs in Butscha bekannt wurden, hat die EU grundsätzlich positiv auf den Antrag der Ukraine reagiert. Alle waren so schockiert über die hohe Zahl der Opfer. Aber nun sind einige Wochen vergangen und plötzlich beginnen wir zu hören, dass die Zeit wohl doch nicht gekommen ist. Dass man eher eine Union schaffen will, die speziell auf die Ukraine zugeschnitten ist.
Emmanuel Macron schlug statt eines schnellen Beitritts die Schaffung einer „europäischen politischen Gemeinschaft“ für die Ukraine und andere beitrittswillige Länder vor.
Ja, aber wir wollen keinen Ersatz. Wir wollen nicht, dass für die Ukraine ein spezielles europäisches Ghetto geschaffen wird. Das werden wir nicht akzeptieren. Der Moment ist gekommen, sich dem Kreml und dessen Erpressung entgegenzustellen. Das ist eine Wahl zwischen den Werten und dem Preis, den man bereit ist zu bezahlen. Es ist an der Zeit zu beweisen, dass das ganze Gerede über Werte wahrhaftig ist.
Als größte Hürde, warum die Ukraine der EU-Mitgliedschaft bislang nicht näherkam, gilt Korruption im Land.
Wenn wir ehrlich sind, dann gibt es leider in vielen Ländern Korruption. Immer erhält man dieses Standardargument der Korruption, wenn jemand versucht, eine Erklärung zu finden, warum die Ukraine nicht akzeptiert wird. Der wirkliche Grund ist Putins Vetomacht. Jetzt aber naht die Stunde der Wahrheit. Und seit dem Zeitpunkt, als die EU-Länder beschlossen, dass die Ukraine den Kandidatenstatus verdient, wurde nicht mehr viel über Korruption gesprochen.
Deutschland wurde in den letzten Monaten auf internationaler Ebene scharf kritisiert. Für seine Energie-Abhängigkeit von Russland und das für viele zu zögerliche Vorgehen bei Waffenlieferungen und Sanktionen.
Ich habe die deutsche Regierung stets gepriesen. Wir hatten immer herzliche und konstruktive Beziehungen zu Deutschland. Angela Merkel war zu ihrer Zeit eine sehr starke Kanzlerin, eine echte Freundin der Ukraine. Ich glaube, dass sie das auch bleiben wird.
Obwohl sie 2008 eine der treibenden Kräfte war, die eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine verhindert hat?
Das war ein tragischer und weitreichender Fehler. Ich habe damals als Ministerpräsidentin den Antrag unterzeichnet. Hätte die Nato die Ukraine aufgenommen, wäre es nie zum Krieg gekommen. Aber es gibt immer die Chance, Fehler zu korrigieren.
Das klingt sehr versöhnlich. Haben Sie ähnlich viel Verständnis für die aktuelle Regierung?
Die deutsche Wirtschaft ist eng mit Russland verflochten und von russischen Ressourcen abhängig. Natürlich erschwert dies politische Entscheidungen in Bezug auf Energieembargos oder Sanktionen. Aber Deutschland hat eine solche Entscheidung im Prinzip getroffen, es unterstützt den EU-Kandidatenstatus der Ukraine und wird Waffen liefern, um der Ukraine zum Sieg zu verhelfen. Das zeigt doch, dass sich Deutschlands Position radikal ändert. Es ist ein politisches Erdbeben.
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Die sogenannte Zeitenwende löste viele Diskussionen aus. Was antworten Sie den Skeptikern?
Es ist im Interesse Deutschlands, diesen Krieg mit einem Sieg der Ukraine so schnell wie möglich zu beenden. Aber damit Putins aggressives Regime zusammenbricht, braucht es eine dramatische Erhöhung der Waffenlieferungen und maximale Sanktionen. Die Finanzmittel heizen diesen Krieg an. Täglich erhält Russland von der EU bis zu eine Milliarde Euro für seine Energieressourcen. Das bedeutet, dass Russland den Krieg fast endlos weiterführen kann, wenn dieser Geldfluss nicht gestoppt oder erheblich reduziert wird. Natürlich sind die verhängten Sanktionen ein zweischneidiges Schwert. Die Länder, die stärker von Russland abhängen, sind gezwungen, mehr Opfer zu bringen. Wir Ukrainer schätzen diesen Wandel sehr, denn wir verstehen den Schmerz und die Last, die er mit sich bringt. Aber der Ukraine zu helfen bedeutet, Europa zu retten.
Sie wollen demnächst nach Berlin reisen. Ist es diese Botschaft, die Sie mitbringen?
Ich will der Regierung sagen, dass sie die Möglichkeit hat, den Lauf der Geschichte Europas zu verändern. Dass sich das Land aus der Abhängigkeit lösen muss, die Russland ausnutzt, um es zu erpressen. Deutschland hat die Zukunft und das Schicksal Europas in der Hand. Von Deutschland hängt entscheidend ab, dass dieser Krieg endet, dass es keine Sanktionen und keine weiteren Kriege in der Zukunft gibt. Es ist eine Gelegenheit, Führung zu demonstrieren, einschließlich der moralischen Führung. Alle Länder, die zu erobern Russland versucht ist, sollten Teil des Verteidigungsabkommens werden. Das würde die Tür zu jedem künftigen Krieg schließen. Putin wird keinen Krieg gegen die Nato führen.