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„Uber für Artilleristen“Wie eine selbst entwickelte Software der Ukraine hilft

Lesezeit 3 Minuten
Zerstörte Panzer Russland

Zerstörte russische Panzer bei Bilohoriwka. 

Köln – Am 24. Februar, dem Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine, meldeten auch die die Betreiber Tausender Windkraftanlagen in Europa merkwürdige Probleme: Die Windräder liefen, ließen sich aber nicht aus der Ferne überwachen und steuern. Die Störung hielt bis in den März hinein an. Grund war der Ausfall eines Satellitennetzwerks des US-Betreibers Viasat. Anfang Mai gab Viasat dann Auskunft über den Grund der Störung: Eine von Russland ausgehende Attacke, deren Ziel es gewesen sei, der Ukraine „Kommando und Kontrolle“ zu entziehen.

Russen erlebten ein Desaster in Bilohoriwka

Womit offiziell war, was die Spatzen von den Dächern pfiffen: Nicht nur zivile Internetdienste, sondern auch das ukrainische Militär nutzten die Dienste von Viasat. Unter anderem für ihr Zielerfassungs- und Kommunikationssystem GIS Arta. Hätte Russland es geschafft, durch den Cyber-Angriff dieses System lahmzulegen, dann wäre dem russischen Militär wohl das Desaster von Bilohoriwka erspart geblieben: Am Dienstag vergangener Woche griff ukrainische Artillerie dort eine Einheit mit rund 550 Soldaten bei einer Flussüberquerung an. Die Ukrainer sprengten nicht nur die russische Pontonbrücke und rissen die dort fahrenden Panzer in den Donez, sondern sie zerstörten auch die Militärfahrzeuge an beiden Ufern. Luftaufnahmen zeugen von grausamer Präzision: Fahrzeug um Fahrzeug wurde erfasst und getroffen. Wie war das möglich?

Einen Teil der Erklärung lieferten das Pentagon und der ukrainische Generalstab in wenig verschlüsselten Erklärungen: Die USA hatten der Ukraine M777-Haubitzen geliefert, Präzisionsgeschütze eines britischen Herstellers, die ferngelenkte Munition wie das US-Produkt „Excalibur“ verschießen können. Dazu kam GIS Arta, eine Software, deren Funktionsweise der US-Militärblogger Trent Telenko, ein pensionierter Pentagon-Beamter, mit Fahrtendiensten wie Uber oder Lyft vergleicht. Tatsächlich ist die Kiewer Entwicklerfirma GIS auch im Logistikgeschäft tätig, die Abkürzung „Arta“ bedeutet „Art for Artillery“.

Aus einer Vielzahl von Quellen entsteht eine Karte

GIS Arta liest Informationen aus allen erdenklichen Quellen – Satellitenaufnahmen, Radar, Funkortungen, von Informanten gemeldete Sichtungen – ein und erzeugt daraus eine Karte des Gefechtsgebiets mit Darstellung aller gemeldeten feindlichen Ziele. Zugleich zeigt GIS Arta einem militärischen Kommandanten alle verfügbaren eigenen Waffensysteme, die diese Ziele erreichen könnten – Geschütze, Raketenwerfer, Drohnen. Außerdem erfasst die Software die Standorte eigener Truppen sowie ziviler Objekte wie Schulen und Krankenhäuser – so sollen versehentliche Angriffe auf eigene Soldaten (das gefürchtete „friendly fire“) und Zivilisten vermieden werden.

Berechnungs- und Entscheidungsprozesse, die sonst mehr als eine Viertelstunde dauern, werden so auf Minuten verkürzt: Die Kommandant bestellt einen Schuss aufs Ziel im gleichen Tempo, in dem er im zivilen Leben eine Kurierfahrt anfordern könnte, die Koordinaten werden übermittelt, der Angriff wird ausgelöst.

Auf den Viasat-Ausfall konnte die Ukraine bekanntlich schnell reagieren: Elon Musk stellte sein alternatives System Starlink bereit – für zivile Zecke, aber eben nicht nur. Auch GIS Arta ist nun mit Starlink verbunden, und bisher ist es Russland nicht gelungen, Musks Satellitentechnik zu hacken. Auch GIS Arta selbst scheint – bisher – sicher: Ende 2016 verbreitete Gerüchte, russische Hacker hätten das System geknackt, haben sich nicht bewahrheitet.

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Während die Ukraine einen großen Teil ihrer Militärtechnik aus dem Westen geliefert bekommt, ist GIS Arta tatsächlich eine Eigenentwicklung – eine Reaktion auf die Okkupation der Krim und den von Russland beförderten Donbass-Krieg von 2014. Entwickler ist der Luftwaffenveteran Jaroslaw Scherstjuk. US-Experte Telenko nennt das ukrainische System einzigartig. Nebeneffekt: Die Ukraine kann ihre Geschütze freizügig im Gelände verteilen und trotzdem gemeinsam steuern, dies macht sie weniger leicht angreifbar.