Innenminister Reul mahnt zu höchster Wachsamkeit. Nicht ohne Grund: Der Antisemitismus nimmt auch an Rhein und Ruhr offenbar in beängstigendem Ausmaß zu.
Jahrestag des Hamas-TerrorsKann NRW seine jüdischen Mitbürger schützen?
NRW ist gewarnt: Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel vor einem Jahr sahen sich die Sicherheitskräfte mit zahlreichen Demonstrationen konfrontiert, bei denen Hass auf Jüdinnen und Juden öffentlich gezeigt wurde und bei denen sich Islamisten ungeniert auf den Straßen wirren Kalifats-Fantasien hingaben, zum Beispiel im November 2023 in Essen. Solche Szenen sollen sich am Jahrestag des Hamas-Terrors möglichst nicht wiederholen und wenn, dann sollen sie nicht folgenlos bleiben für Unruhestifter.
Für den 7. Oktober 2024 und die folgenden Tage sind Polizistinnen und Polizisten in NRW noch einmal speziell für mögliche Gefahren sensibilisiert worden, zumal der eskalierende Nahostkonflikt die Gemüter zusätzlich erhitzt. Schon am vergangenen Mittwoch kündigte NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) an, dass die „polizeilichen Maßnahmen“ im Umfeld von Synagogen und anderen jüdische Einrichtungen am 7. Oktober und an den zahlreichen jüdischen Feiertagen in diesem Monat verstärkt würden. Der Schutz jüdischen Lebens sei eine „nicht verhandelbare Verpflichtung“, betonte der Minister.
Klarer Auftrag: Noch wachsamer sein
Wie dringlich seine Aufforderung ist, an diesen Tagen besonders genau hinzusehen, wird in einem Brief deutlich, den Reul unter der Woche an die Leiter aller Kreispolizeibehörden geschickt hat und der unserer Redaktion vorliegt. Der Innenminister erinnert darin seine Polizei an das bekannte Angela-Merkel-Zitat „Israels Sicherheit ist deutsche Staatsräson“. Die Polizistinnen und Polizisten werden darum gebeten, „wachsam zu sein und allen Formen des Antisemitismus und Antizionismus entschieden entgegenzutreten“.
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Der 7. Oktober als Jahrestag der Anschläge habe eine „hohe Symbolwirkung“, und es gebe eine „anhaltend hohe und besondere Gefährdungslage“ für die Menschen jüdischen Glaubens an Rhein und Ruhr. Der Auftrag lautet daher: noch mehr Aufklärung als sonst rund um jüdische Einrichtungen, Sensibilisierung aller im Wachdienst und im Objektschutz Tätigen und besonderer Schutz für Gläubige, die sich zum Beispiel am nächsten Freitag zum Jom Kippur (Versöhnungstag) versammeln werden. Bis Ende Oktober gibt es noch vier weitere jüdische Feiertage.
Gewalttaten als mahnende Beispiele
Die Befürchtungen sind nicht aus der Luft gegriffen. Erst Anfang September verhinderten bayerische Polizeikräfte einen mutmaßlichen Terroranschlag auf das israelische Generalkonsulat in München. Der Tatverdächtige – ein 18-jähriger Österreicher mit bosnischen Wurzeln – wurde von Polizisten erschossen. Viele erinnern sich in diesen Tagen auch an den Anschlag eines Rechtsextremisten am Jom-Kippur-Tag vor fünf Jahren auf die Synagoge in Halle. Der Täter tötete in der Nähe des Gotteshauses zwei Menschen und verletzte bei seiner Flucht zwei weitere.
Die Polizeichefs in NRW sind dazu angehalten, ihre Kräfte in diesen Tagen „über jegliche Symbole, Chiffren und Erscheinungsformen des Antisemitismus“ aufzuklären. Die Polizei soll nicht nur offene, sondern auch getarnte Judenfeindlichkeit erkennen können.
Alarmierende Statistiken und Studien
Das Gefühl, in Deutschland und in NRW nicht mehr sicher und unbeschwert leben zu können, haben viele Jüdinnen und Juden nicht erst seit dem Hamas-Terror vor einem Jahr. Ihre Angst ist berechtigt, denn der Antisemitismus ist in NRW auf dem Vormarsch. Laut Kriminalitätsstatistik stieg die Zahl antisemitischer Straftaten in NRW in der ersten Jahreshälfte 2024 um 85 Prozent auf 245 bekannt gewordene Fälle. Bei den Tätern handele es sich mehrheitlich um Rechtsextremisten, hieß es.
Verstörend sind die Ergebnisse einer Studie des Allensbach-Institutes zu Judenfeindlichkeit in der NRW-Bevölkerung, die die Antisemitismusbeauftragte des Landes, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), vor Kurzem vorstellte. Demnach haben bis zu 24 Prozent der 1300 Befragten – Junge, Ältere, Einheimische, Zugewanderte, Studierte und Nichtakademiker – judenfeindliche Einstellungen in unterschiedlicher Form. Etwa jeder Zweite ist dafür, einen „Schlussstrich unter die Vergangenheit des Holocausts“ zu ziehen.
In der Bevölkerung scheint sich knapp 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg Gleichgültigkeit breit zu machen gegenüber den Gräueln der Nazis gegen Juden und andere Verfolgte. „Dieser Befund tut weh, er fordert uns, er ist inakzeptabel“, ließ Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) am Sonntag mitteilen.
Viele Veranstaltungen zum Jahrestag
Das abgelaufene Wochenende, der Montag und die Tage danach sind ein Stresstest für die Polizei in NRW. Sieben Versammlungen mit Bezug zum Nahostkonflikt wurden für den Sonntag angemeldet, allein zwei davon in Köln. Die Anmelder rechneten meist mit Teilnehmerzahlen „im zweistelligen und im niedrigen dreistelligen Bereich“, so das NRW-Innenministerium. Deutlich mehr Teilnehmende wurden für eine Demo in Düsseldorf erwartet. Dort riefen Gruppen und Vereine, darunter der Jüdische Studierendenverband NRW und die jüdische Gemeinde Düsseldorf, zum einem „Marsch des Lebens“ auf, um an die Opfer der Hamas zu erinnern. Mindestens 21 weitere Versammlungen sollen am Montag, also am Jahrestag, folgen.