Wer braucht noch die Linke, wenn Sahra Wagenknecht ihre eigene Partei gründet? Und was müsste passieren, um die AfD zu stoppen? Fragen an Gregor Gysi.
Interview mit Gregor GysiIst die Wagenknecht-Partei das Todesurteil für die Linke?
Gregor Gysi kritisiert Sahra Wagenknechts Avancen, die Linke zu verlassen: „Das kann ich politisch und moralisch nur verurteilen.“ Große Erfolgschancen räumt er einer möglichen neuen Partei nicht ein.
Herr Gysi, haben Sie schon mal von Sahra Wagenknecht geträumt?
Da ich mich an die meisten meiner Träume nicht erinnern kann, weiß ich es nicht.
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Falls Sie von Sahra Wagenknecht träumen würden: Wäre es ein Albtraum oder ein schöner Traum?
Weder noch. Ich versuchte, Sahra zu überzeugen, in der Linken zu bleiben, aber sie ist schon sehr weit weg. Dabei kann sie eigentlich nicht sagen: Die Linke ist plötzlich so unerträglich geworden. Ihr Buch „Die Selbstgerechten“ hat sie schließlich schon im April 2021 veröffentlicht. Trotzdem hat sie sich entschieden, als Spitzenkandidatin in NRW zu kandidieren. Danach hat sie allerdings zusammen mit ihrem Mann (Oskar Lafontaine, Anm. d. Red.) dazu aufgerufen, im Saarland nicht die Linke zu wählen. Das darf man nicht. Aber das alles ist für mich nicht ausschlaggebend.
Was ist für Sie ausschlaggebend?
Meine Partei ist keine Einheitspartei, sondern eine „Von-bis-Partei“ – und da gehört für mich Sahra Wagenknecht ebenso dazu wie andere und ich. Dennoch wird sie gehen, was ich politisch und moralisch nur verurteilen kann.
Wird die Wagenknecht-Partei erfolgreich sein?
Ich glaube: nicht langfristig. Sahra will Flüchtlingspolitik wie die AfD machen, Wirtschaftspolitik nach Ludwig Erhard und Sozialpolitik wie die Linken. Sie denkt, dass die Wählerinnen und Wähler sich addieren. Aber das funktioniert so nicht. Vielleicht kann Sahra damit noch bei der Europawahl und im nächsten Jahr in ein, zwei neuen Bundesländern erfolgreich sein. Aber ich glaube nicht, dass sie damit 2025 in den Bundestag kommt.
Ist die Gründung einer Wagenknecht-Partei das Todesurteil für die Linke?
Nein. So wie ich die Mitglieder meiner Partei kenne, wird es die Leidenschaft zu kämpfen neu entfachen, auch wenn es natürlich anstrengend wird. Aber die Partei wird dann wieder enger zusammenrücken.
Wer braucht die Linke noch? Und wozu?
Wenn ich an die Entwicklung zum Nationalismus denke, an die Pandemie, Krieg, die Inflation, die Energiekrise und die Klimakatastrophe, ist ein linkes Politikangebot sehr wichtig. Darauf müsste sich meine Partei besinnen. Dann bekommt sie auch wieder den Stellenwert in der Gesellschaft, den sie benötigt, damit ihre Argumente gehört werden. Dazu muss sie aber endlich mit der Selbstbeschäftigung aufhören und ihre eigentlichen Rollen übernehmen.
Was sind die Rollen Ihrer Partei?
Ich sehe vor allem fünf Aufgaben. Erstens: Sich für eine reale Friedenspolitik einzusetzen. Zweitens: Sich für mehr soziale Gerechtigkeit zu engagieren. Die soziale Spaltung vertieft sich immer weiter. Das darf so nicht weitergehen. Die zwei reichsten Menschen Deutschlands haben zusammen ein größeres Vermögen als die untere Hälfte unserer Bevölkerung, also 42 Millionen Menschen. Das ist doch absurd! Deshalb brauchen wir mehr Steuergerechtigkeit, es darf nicht alles von der Mitte bezahlt werden. Warum werden die Konzerne und Banken kaum herangezogen?
Wofür soll Ihre Partei sich noch starkmachen?
Sie soll sich drittens für die ökologische Nachhaltigkeit in sozialer Verantwortung einsetzen. Viertens muss sie sich der Gleichstellung von Frau und Mann widmen. Und fünftens für die Gleichstellung von Ost und West kämpfen. Das macht zwar auch die AfD, aber nur oberflächlich. Das haben sie von uns geklaut. Wir müssen es wieder vertieft machen.
Warum wählen so viele Menschen in Ostdeutschland die AfD?
Das ist zunächst nicht ein ostdeutsches, sondern ein weltweites Phänomen. Derzeit würde Trump die Wahlen in den USA gewinnen, und wir haben Erdogan, Orban, Meloni, Duda, Le Pen und die AfD. Überall auf der Welt haben die Menschen Angst vor der Globalisierung und Flüchtlingen. Die AfD und andere Rechtsextreme und Nationalisten nutzen diese Ängste aus und sagen: „Wir kriegen alles national gelöst. Ihr müsst weder an die EU glauben, noch an irgendwas anderes.“ Das ist zwar völliger Unsinn, aber es wirkt.
Wie kann der Siegeszug der AfD gestoppt werden?
Dazu müsste es Gespräche zwischen CSU, CDU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und der Linken geben, wie wir diejenigen, die das Vertrauen in die etablierte Politik vollständig verloren haben, wiedergewinnen können. Dabei geht es nicht nur um die AfD-Wählerinnen und -Wähler, sondern auch um die Nichtwählerinnen und -wähler und diejenigen, die ungültig oder eine Kleinstpartei wählen, nur um es den etablierten Parteien zu zeigen.
Was müsste noch passieren?
Wir müssen weniger über den Erfolg der AfD und mehr über unsere eigenen Fehler nachdenken. Die Sprache der Politiker müsste sich ändern. Wieso quatschen wir immer von der Veräußerungsgewinnsteuer, anstatt mal zu erklären, was das überhaupt ist? Wenn FDP, Grüne und SPD heute eine Entscheidung treffen, lautet der zweite Tagesordnungspunkt stets: Wie verkaufen wir das der Bevölkerung? Aber die Bevölkerung hat dafür zunehmend einen Instinkt und verliert so das Vertrauen.
Was erschüttert das Vertrauen in die Politik noch?
Die Selbstbedienungsmentalität. Alle Bundesministerinnen und Bundesminister, der Kanzler und sämtliche Beamtinnen und Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes bekommen 3000 Euro Inflationsausgleich. Andere Beschäftigte und Rentnerinnen und Rentnern natürlich nicht. Das geht einfach nicht! So wird Vertrauen verspielt! Und all das spielt der AfD in die Hände, die immer so tut, als ob sie ausgegrenzt sei. Viele Menschen, die ausgegrenzt sind, wählen die AfD auch, weil sie meinen, ein ähnliches Schicksal wie diese Partei zu erleiden. Dabei quatscht die AfD im Bundestag und in jedem Ausschuss viel länger als wir. Sie haben alle Möglichkeiten. Das Einzige, was ihnen nicht gelingt, ist, ein Mitglied zum Vizepräsidenten des Bundestages wählen zu lassen und ein Mitglied im Geheimdienstausschuss zu stellen. (Philipp Hedemann)