Lützerath aufgeben oder weiter für den Erhalt kämpfen? Diese Frage spaltet die Grünen. NRW-Parteichefin Yazgülu Zeybek hat dazu eine klare Meinung. Ein Gespräch über die Grenzen des „zivilen Ungehorsams“.
Grünen-Chefin Zeybek im InterviewWarum Lützerath jetzt geräumt werden sollte
Es ist gerade viel los im Leben von Yazgülü Zeybek. Die 36-jährige Politikwissenschaftlerin ist seit neun Monaten Mutter einer Tochter und seit einem halben Jahr Co-Landesvorsitzende der NRW-Grünen. Ihre Partei regiert in Düsseldorf und Berlin mit, was den Start im neuen Amt in schwieriger Zeit nicht leichter macht. Tobias Blasius traf Yazgülü Zeybek in der Düsseldorfer Grünen-Zentrale zum Gespräch.
Frau Zeybek, wie sollte der Staat auf die Silvester-Attacken gegen Einsatzkräfte reagieren?
Es schockiert mich, dass in der Silvesternacht ausgerechnet jene Menschen angegriffen wurden, die anderen Menschen helfen wollten. Das ist nicht tolerierbar und muss strafrechtlich konsequent verfolgt werden.
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Ein Großteil der Tatverdächtigen hatte offenbar Migrationshintergrund. Warum scheitert die Integration bei jungen Männern so häufig?
Unabhängig von der Herkunft der einzelnen Tatverdächtigen müssen wir uns als Gesellschaft fragen: Woher kommt diese Aggression und die Gewaltbereitschaft bei Gruppen junger Männer, und wie können wir sie eindämmen? Ich finde es zu kurz gedacht, pauschal die Integrationspolitik als Erklärungsmuster heranzuziehen. Wir erleben schließlich auch andere Tumultlagen etwa im Zusammenhang mit Fußballspielen, die in der Erscheinungsform ähnlich sind wie die Silvester-Krawalle, bei denen aber die Herkunft der Beteiligten praktisch keine Rolle spielt.
Brauchen wir ein Böllerverbot?
Ich fordere kein generelles Böllerverbot, finde es aber auch problematisch, wenn das Abbrennen von Pyrotechnik als bürgerliches Freiheitsrecht verklärt wird. Klar ist, dass wir diese Debatte nicht erst wieder am 28. Dezember 2023 beginnen können. Ich persönlich vertrete die Position, dass man Böllerverbotszonen auf Wohngegenden ausweiten könnte, um die Belastungen für ältere Menschen, für Kinder, Tiere und die Umwelt zu verringern. Am Ende entscheiden darüber aber die Kommunen in eigener Verantwortung.
Es geht nicht nur in der Silvesterdebatte aktuell um Fragen der politischen Korrektheit und sprachliche Sensibilität. Haben Sie eigentlich ein Problem mit dem Begriff Clankriminalität?
Organisierte Kriminalität muss mit voller Härte bekämpft werden, das ist für uns Grüne völlig unstrittig. Dafür braucht es besondere Ressourcen bei Polizei und Justiz. Doch das aktuelle Lagebild-Clankriminalität stigmatisiert Menschen und stellt sie unter Generalverdacht. Wenn Jugendliche nur wegen ihres Nachnamens keine Ausbildungsperspektive haben und ohne Anlass von der Polizei kontrolliert werden, ist etwas nicht richtig.
In dieser Woche startet der Räumungseinsatz im Braunkohle-Protestdorf Lützerath. Was macht das mit der Grünen-Landesvorsitzenden?
Ich finde es bitter, dass Lützerath als letzte Siedlung im Rheinischen Revier noch geräumt werden muss. Das haben sich die Grünen weder gewünscht noch ausgesucht. Doch die Rechtlage ist klar und längst ausgeurteilt: Dem Energiekonzern RWE gehören die Grundstücke, die Braunkohle darunter darf zur Stromerzeugung abgebaggert werden. Die Energieversorgungssicherheit nach dem russischen Überfall auf die Ukraine erfordert es leider, dass kurzfristig mehr Kohle verstromt werden muss. Zugleich wurde auf Bundes- und Landesebene mit RWE vereinbart, dass der Kohleausstieg in NRW um acht Jahre auf 2030 vorgezogen wird, rund 280 Millionen Tonnen Braunkohle im Boden bleiben und fünf Dörfer nicht mehr zerstört und die Menschen dort nicht mehr umgesiedelt werden müssen. Das ist ein großer Erfolg in einer für uns alle schwierigen Zeit.
Appellieren Sie an die Klimabewegung, Lützerath friedlich zu räumen?
Ja. Gewalt in jeglicher Form ist nicht akzeptabel. Wir appellieren als Partei an alle Seiten, deeskalierend zu wirken und eine geordnete Räumung möglich zu machen.
Klimaaktivisten haben „zivilen Ungehorsam“ zur Verteidigung Lützeraths angekündigt. Ist es für Sie eine legitime Protestform, sich an der Straße festzukleben oder Kunstwerke mit Kartoffelbrei zu bewerfen?
Ziviler Ungehorsam gehört zur Demokratie, solange er gewaltfrei ist. Klimaaktivisten und Initiativen wie Fridays for Future haben maßgeblich dazu beigetragen, den Kampf gegen die Erderwärmung öffentlichkeitswirksam wieder ins allgemeine Bewusstsein zu bringen. Mit Protestformen wie dem Festkleben an Straßen oder der Beschädigung von Kunstwerken kann ich nichts anfangen, weil sie nicht dazu beitragen, mehr Menschen für das wichtige Anliegen des Klimaschutzes zu gewinnen.
Verlieren die pragmatischen Grünen ihre einstigen Vorfeldorganisationen?
Wir kommen aus der Klimabewegung und sind dort stark verwurzelt. Die Grünen als verantwortliche Partei, die in Parlamenten und Regierungen immer mühsam politische Mehrheiten zum Wohle des Klimaschutzes finden muss, haben natürlich eine andere Rolle als ein zivilgesellschaftliches Bündnis, das sich mit Mitteln des zivilen Ungehorsams als Debattentreiber versteht. Das ist in Ordnung, das halten wir aus.
Sind die Grünen selbst überhaupt noch rebellisch?
Um unsere Diskussionskultur mache ich mir keine Sorgen. Bei unserem Bundesparteitag in Bonn im vergangenen Oktober konnten Sie in der emotionalen Debatte über Lützerath doch erleben, dass wir um schwierige Fragen noch immer sehr ernsthaft ringen. Wir können und müssen über den richtigen Weg streiten, gerade weil wir im Ziel einig sind.
Der Mitgliederboom des Grünen-Landesverbandes scheint vorbei zu sein. Warum?
Wir haben weiter Mitgliederzuwachs und arbeiten daran, dass möglichst viele Neumitglieder sich auch aktiv einbringen wollen. Dafür ist mir ein möglichst guter Austausch über alle politischen Ebenen hinweg wichtig. Wer bei den Grünen mitmacht, soll merken, dass seine Meinung gehört wird. Außerdem arbeite ich daran, dass wir uns als Partei auch noch stärker bei Menschen mit internationaler Geschichte oder in nicht-akademisierten Haushalten verankern.