Jahrelang hat der frühere katholische Pfarrer Hans-Bernhard U. ein Pflegekind sexuell missbraucht – und das Erzbistum Köln sieht keinen Zusammenhang mit seinen Dienstpflichten. Wie argumentiert die Diözese? Und was sagt der Anwalt des Opfers dazu?
Vergewaltigung als Freizeitbeschäftigung?Erzbistum lehnt Schmerzensgeld für Missbrauchopfer im Fall Pfarrer U. ab
Waren schwere Missbrauchsdelikte eines katholischen Priesters dessen Privatsache? Hat der vom Landgericht Köln 2022 wegen Missbrauchsdelikten in insgesamt 110 Fällen zu zwölf Jahren Freiheitsstrafe verurteilte damalige Pfarrer Hans-Bernhard U. sein erstes Opfer, die heute 57-jährige Melanie F., ausschließlich in seiner Freizeit missbraucht, ohne dass das etwas mit seinen kirchlichen Ämtern zu tun habe?
Ein Zusammenhang der Taten mit kirchlichen Dienstpflichten sei nicht erkennbar, schreibt das Erzbistum Köln in seiner Erwiderung auf eine Schadenersatzklage von Melanie F. – und hat damit immerhin einen Hinweisbeschluss des Landgerichts erreicht, verbunden mit einer Vertagung des Prozessbeginns. Mittlerweile ist der Auftakt für den 2. Juli 2024 geplant – fast ein Jahr nach Einreichung der Klage im Juli 2023.
Nach der Argumentation des Erzbistums, so Melanie F.s Bonner Anwalt Eberhard Luetjohann, könnten Diözesen in solchen Fällen immer „den Joker“ ziehen und behaupten, „ihr Priester habe sich Freizeit für eine Vergewaltigung genommen, habe sich als Priester kurzfristig abgemeldet“, und die jeweils beklagte Diözese sei daher nicht amtshaftungspflichtig. „Das wäre ein Freibrief für Missbräuche“, schreibt Luetjohann in seiner Erwiderung auf das Schreiben des Erzbistums, die der Rundschau vorliegt.
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Um welche Tatbestände geht es im Fall Melanie F.?
Die Taten des mittlerweile aus dem Priesterstand entfernten Hans-Bernhard U. summieren sich zu einem der wohl schwersten Missbrauchsfälle in der Geschichte des Erzbistums. Im Gutachten des Kölner Strafrechtlers Björn Gercke von 2021 konnte nur der damals bekannte Teil der Vorwürfe dokumentiert werden: der sexuelle Missbrauch von drei Nichten des Geistlichen (Aktenvorgang 22).
Der Umgang des Erzbistums mit diesen ihm bereits 2010 bekannten Verdacht führte 2021 dazu, dass zwei Verantwortliche – der Hamburger Erzbischof und frühere Kölner Personalchef, dann Generalvikar Stefan Heße und der Kölner Weihbischof und ebenfalls Ex-Generalvikar Dominikus Schwaderlapp – ihren Rücktritt anboten. Der Papst ließ aber beide im Amt.
Im Strafprozess gegen U. meldeten sich dann immer mehr Opfer – darunter auch Melanie F., ein früheres Heimkind, das der damalige Priesterseminarist U. bei sich im Priesterseminar hatte übernachten lassen (!) und 1979 mit Genehmigung des damaligen Erzbischofs Joseph Kardinal Höffner als Pflegekind annahm. 1980 wurde U. zum Priester geweiht.
Alles in allem dauerte der Missbrauch fünf Jahre lang. Zuletzt sei jeder Samstag „Bade-und Vergewaltigungstag“ gewesen, so die Klageschrift. Als Melanie schwanger wurde, ließ U. bei ihr unter Vorspiegelung einer anderen Behandlung eine Abtreibung vornehmen. Bei einer zweiten Schwangerschaft entschied sie sich selbst zur Abtreibung.
Worum geht es in dem Zivilprozess?
Pfarrer U. ist wegen des Missbrauchs seines Pflegekindes nie verurteilt worden, denn strafrechtlich war der Fall verjährt. Im Zivilverfahren verzichtete das Erzbistum dagegen auf den Versuch, Verjährung geltend zu machen – ebenso wie schon im Fall des ebenfalls von Luetjohann vertretenen Missbrauchsopfers Georg Menne, dem die Diözese schließlich 300.000 Euro Schadenersatz zahlen musste. Luetjohann verlangt für seine Mandantin mindestens 830.000 Euro Schmerzensgeld plus Zinsen und Nebenkosten. Das Erzbistum lehnt diesen Anspruch ab. Begründung: U. habe die Taten in seiner Wohnung begangen und dabei seine Stellung als Pflegevater ausgenutzt. Ein Zusammenhang mit seinen kirchlichen Dienstpflichten sei nicht erkennbar, er habe nicht in Ausübung eines öffentlichen Amtes gehandelt.
Wie argumentiert Melanie F.s Anwalt?
Luetjohann hält dem Erzbistum vor, diese Argumentation laufe auf die Aussage hinaus, Pfarrer U. habe sich „immer dann, wenn er die Klägerin missbrauchte, Freizeit genommen, sei es tatsächlich oder auch nur in seinem Kopf“. Genau diese Differenzierung zwischen einem Handeln als Pfarrer und als Privatmann – als Pflegevater in seiner Wohnung – bestreitet Luetjohann gestützt auf eine gutachterliche Stellungnahme des Bonner Kirchenrechtlers Norbert Lüdecke.
Abgesehen davon, dass Us. im Pfarrhaus von Alfter, später dem von Türnich, also in Dienstwohnungen lebte, sei ein katholischer Priester grundsätzlich immer im Dienst. Lüdecke: „Nach dogmatischem Selbstverständnis der katholischen Kirche wird ein getaufter Mann durch die sakramentale Weihe … in einzigartiger Weise und unwiderruflich in seinem ‚Wesen‘ (Vatikanum II, ‚Lumen Gentium‘ Nr. 10), also ontologisch verändert, d. h. in eine neue, ihn von allen anderen Gläubigen unterscheidende Daseins- und Existenzform geführt.“
Eine Analyse, die der in Münster lehrende Kirchenrechtler Thomas Schüller teilt. Ergänzend verweist er auf ein Schreiben Benedikts XVI. an die katholischen Priester, die sich von Christus „vereinnahmen“ lassen sollten. Auf Vorschriften wie die, dass Priester immer erkennbar sein, immer die heiligen Salböle mit sich führen, jederzeit und an jedem Ort für Beichte und Krankensalbung zur Verfügung stehen müssen. Kurz: Priester, das sieht Schüller wie Lüdecke, sind immer im Dienst. Aber was folgt daraus?
Haftet die Kirche für jede Tat eines ihrer Priester?
Dass ein Priester immer im Dienst ist, kann ja sicher nicht heißen, dass beispielsweise das Erzbistum Köln haften müsste, wenn einer seiner Pfarrer auf einem Familienausflug mit seinen Geschwistern einen Unfall verursacht. Aber auch grundsätzlich stellt sich die Frage: Darf ein staatliches Gericht religiöse Aussagen – zum Beispiel das von Lüdecke zitierte Konzilsdokument „Lumen Gentium“ – überhaupt beurteilen und daraus Folgerungen zum Nachteil einer religiösen Institution ziehen?
Da sind dem Staat enge Grenzen gesetzt, wie etwa eine letztlich im Jahr 2000 vom Bundesverfassungsgericht entschiedene Auseinandersetzung zwischen dem Land Berlin und den Zeugen Jehovas ergab. Und: „Das priesterliche Amtsverständnis gehört zum innersten Kern des katholischen Glaubens“, sagt Schüller.
Das heißt: Luetjohann muss nun den Hinweis antreten, dass die Kirche im Fall F. tatsächlich – über die Glaubensaussagen hinaus – eine Garantenpflicht trifft. Dafür allerdings sieht der Anwalt eine Reihe von Belegen, die auch Schüller für plausibel hält. Vor allem: Der Diakon und spätere Pfarrer U. konnte die damals 13-jährige Melanie F. nur als Pflegekind annehmen, weil Höffner ihm das genehmigte – unter der Auflage übrigens, dass das Kind getauft wurde.
Diese Genehmigung, so Lüdecke, hätte Höffner auch nach den damaligen kirchlichen Vorschriften über das Zusammenleben von Priestern mit weiblichen Personen nie ausstellen dürfen. Immerhin legte der Kölner Kardinal eine Sicherheitsvorkehrung fest: U. sollte eine Haushälterin einstellen. Das tat er nicht, und das wurde nie kontrolliert – weder vom Ortspfarrer noch vom Dechanten, auf dessen Zuständigkeit auch Lüdecke hinweist.
Auch der Regens des Priesterseminars, dem der Diakon und spätere Kaplan U. unterstand, schritt nicht ein. Die Ausbildungseinrichtung des Erzbistums hatte es ja sogar hingenommen, dass Seminarist U. gemeinsam mit dem Mädchen in seinem eigenen Bett übernachtete.
Und, ein Punkt, den Luetjohann mehrfach betont: U. missbrauchte auch seine Stellung als Beichtvater von Melanie F. und widersprach ihren Sorgen über die Sündhaftigkeit des sexuellen Kontakts mit ihm. Sakramentenspendung und – noch so sehr pervertierter – geistlicher Rat als Freizeitbeschäftigung eines Geistlichen?
Was das Erzbistum dazu zu sagen hat, wird sich vom 2. Juli an zeigen. Kirchenrechtler Schüller und sein in Tübingen lehrender Kollege Bernhard Sven Anuth sind jedenfalls bereit, vor Gericht als sachverständige Zeugen aufzutreten.