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Eklat im Weißen HausTrump lässt Europa im Stich - und was tun wir jetzt?

Lesezeit 8 Minuten
ARCHIV - 31.03.2011, Sachsen-Anhalt, Burg: Soldaten eines Logistikbataillons sind zum Rückkehrerappell der Bundeswehr in der Clausewitz-Kaserne in Burg (Kreis Jerichower Land) angetreten. (zu dpa: «Analyse: Ohne USA braucht Europa 300.000 Soldaten mehr») Foto: Jens Wolf/dpa-Zentralbild/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Bundeswehrsoldaten in Burg (Kreis Jerichower Land) anno 2011: Um einen Ausfall des Bündnispartners USA zu kompensieren, müssten die deutschen Streitkräfte um rund ein Drittel wachsen.

Finanzierung der Ukraine Hilfen? Eigene Rüstungsprojekte? Ein europäischer Atomschirm? Vor welchen Fragen stehen die Europäer nach dem Eklat beim Washington Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj? Und was heißt das für Union und SPD in Berlin? Eine Einordnung.

Historiker werden den 28. Februar 2025 vielleicht als den Tag bewerten, an dem die USA als Ordnungsmacht und führende Kraft der freien, westlichen Welt abtraten. Als den Tag, an dem sie nicht nur die Ukraine endgültig im Stich ließen, sondern auch ihren Bündnispartnern den Stuhl vor die Tür stellten. Den Tag, an dem sie Europa der russischen Aggression preisgaben und damit zugleich China einluden, im Pazifik dem Vorbild Wladimir Putins zu folgen.

Keine sechs Wochen nach Amtsantritt hat US-Präsident Donald Trump nicht nur das demokratische und rechtsstaatliche System der USA am Inneren, sondern auch das von seinen Vorgängern in den 80 Jahren seit Ende des Zweiten Weltkrieges aufgebaute System internationaler Bündnisverträge paralysiert. Die Verträge selbst sind natürlich noch in Kraft. Die Partner mögen sehen, wie sie zurechtkommen, und haben nur noch den Vorteil, dass sie bestehende Strukturen wie die Nato-Zentrale in Brüssel ja weiter nutzen können. Trump hat den französischen Präsidenten Emmanuel Macron und den britischen Premier Keir Starmer in Washington antreten lassen, um sie umgehend zu desavouieren. Er hat sich ihre Positionen zum russisch-ukrainischen Krieg angehört, nur um danach seinen Besucher Wolodymyr Selenskyj in einer Inszenierung zu demütigen, deren Drehbuch in Moskau geschrieben worden sein könnte. Ihn als Bittsteller zu behandeln und aus dem Weißen Haus zu werfen. Großes Fernsehen eben, wie Trump resümierte. Das russische Staatsfernsehen hat die Show gerne übernommen.

Warum inszenierten Trump und Vance Selenskyjs Rauswurf?

Es war ein Spiel mit verteilten Rollen, in dem Vizepräsident JD Vance als Oberflegel vom Dienst die Aufgabe zufiel, Selenskyj wegen angeblich fehlender Dankbarkeit anzugreifen. Und das nur, weil Selenskyj – wie vor ihm die Besucher Macron und Starmer – die Frage angesprochen hatte, die sich bei jedem Waffenruheabkommen stellt: Wer garantiert eigentlich, dass es hält?

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Wenn es irgendeine rationale Erklärung für das Verhalten von Trump und Vance gab, dann die: Der angeblich so friedenswillige russische Machthaber Wladimir Putin hat die neue US-Administration konsequent auflaufen lassen. Er will den von Trump vorgeschlagenen europäischen Friedenseinsatz keineswegs akzeptieren und den Krieg auch nicht an der aktuellen Frontlinie einfrieren, sondern verlangt die Räumung weiterer Gebiete, deren Eroberung ihm nicht gelungen ist. Ganz abgesehen davon ist Trumps Idee gescheitert, die Ukraine nach dem Muster eine Kolonie wirtschaftlich auszusaugen. Dealmaker Trump ist auf ganzer Linie gescheitert und lässt die Gespräche platzen – „wir sind draußen“. Damit schiebt er die Schuld an seinem eigenen Versagen zu markiert daheim, in den durch Elon Musks Behördenchaos und sinkendes Verbrauchervertrauen gezeichneten USA, den starken Mann.

Trump dokumentiert mit seinem Verhalten aber auch seine Sicht auf Europa: Die USA seien von den Problemen dort durch einen „großen, wunderbaren Ozean“ getrennt, hatte er am 19. Februar in seinem Hass-Post über den vermeintlichen „Diktator“ Selenskyj geschrieben. Europas Probleme sind demnach nicht seine Probleme. Die europäischen Politiker Macron und Starmer, die ihm vor der Selenskyj-Visite ihre Aufwartung machten, hat er bloßgestellt. Vor allem für Starmer, der ihm mit der Einladung zu einem zweiten Staatsbesuch eine außerordentliche Ehrung durch König Charles III. persönlich mitgebracht hatte, ist die Abkanzelung Selenskyjs nur einen Tag später eine schwere Niederlage. Zudem hatten Großbritannien und Frankreich, beide Veto-Mächte im UN-Sicherheitsrat, bei der Abstimmung über eine Putin-freundliche, von den USA eingebrachte Resolution auf Einspruch verzichtet.

Angesichts dieses Verhaltens sollte niemand darauf bauen, dass Trump noch irgendwelche Bündnispflichten aus dem Nato-Vertrag oder dem Anzus-Pakt mit Australien einlöst. Was muss jetzt passieren?

Auf welche Szenarien müssen sich die Europäer einstellen?

Das von Trump immer wieder nach vorne gestellte Thema Geld spielt eigentlich die geringste Rolle. Die 350 Milliarden Dollar, die Trump von der Ukraine zurückgezahlt haben will, sind ein frei erfundener Betrag. Die tatsächliche US-Hilfe beläuft sich auf ein Drittel der Summe und bleibt mittlerweile hinter der Hilfe europäischer Staaten um einen zweistelligen Milliardenbetrag zurück. Die von Deutschland in drei Jahren aufgebrachten Hilfen zum Beispiel entsprechen gerade einmal 0,4 Prozent der nationalen Wirtschaftsleistung eines einzigen Jahres. Da ist noch Luft nach oben. Finanziell könnten die Europäer somit sogar einen Totalausfall der US-Hilfen kompensieren. Aber sie können US-Fähigkeiten etwa in der elektronischen Aufklärung nicht ersetzen und auch für die Ukraine wichtige Waffensysteme wie die Himars-Raketenwerfer nicht herstellen. Darüber hinaus können europäische Rüstungsfabriken auch für alles Geld der Welt nicht in beliebigem Tempo beispielsweise neue Schützenpanzer bauen. Viel wird davon abhängen, ob Trump zumindest Waffeneinkäufe zugunsten der Ukraine zulässt. Immer hin spülen sie ja Geld in die US-Kassen. Im vergangenen Jahr musste die Ukraine bereits ein halbes Jahr nahezu ohne US-Hilfen aushalten und hat das bei schweren Verlusten geschafft. Jetzt müssen die Europäer alles in ihrer Macht Stehende tun, um der Ukraine ihre Selbstverteidigung auch über den Sommer hinaus zu ermöglichen.

Für die zweite Jahreshälfte und die Zeit danach müssen sich die Europäern, muss sich auch eine neuen Bundesregierung auf verschiedenen Szenarien vorbereiten. Vom schlimmsten Fall eines weitgehenden Zusammenbruchs der ukrainischen Verteidigung mit einer neuen, großen Fluchtbewegung als unmittelbarer Folge bis zum besten Fall, dass es der Ukraine gelingt, Russland mit möglichst geringem eigenen Aufwand so große militärische Verluste zuzufügen und den Dauerstress der russischen Wirtschaft so zu erhöhen, dass Putin sich auf eine Waffenruhe zu halbwegs erträglichen Bedingungen einlässt.

In beiden Fällen müssen die Europäer darauf eingestellt sein, dass Putin umgehend mit dem Wiederaufbau seiner Truppen beginnen wird und sich durch Trumps Verhalten eingeladen fühlen dürfte, die alleingelassenen europäischen Nato-Verbündeten durch militärische Provokationen zu testen. Er hat dabei den Vorteil, dass er aus dem Zentrum seines Reiches heraus operieren und sich die Schauplätze entlang einer schier endlos langen Bündnisgrenze aussuchen kann – vom Donaudelta über den Ostseeraum bis nach Nordnorwegen.

Welche Aufgaben kommen auf Union und SPD zu?

Union und SPD in Deutschland müssen sich angesichts dessen um eine zügige Regierungsbildung bemühen und bei den großen außen- und sicherheitspolitischen Fragen konsequent auch die künftig oppositionellen Grünen konsultieren. Die nahezu gleich lautenden Statements von CDU-Chef Friedrich Merz, SPD-Chef Lars Klingbeil und Bundeskanzler Olaf Scholz zum US-Affront gegen Selenskyj lassen auch auf einen klaren Willen zur Einigung schließen. Und offensichtlich spart sich die Regierung Scholz weitere Spitzen gegen ein von Merz angeblich gewünschtes Regierungspraktikum und bindet den künftigen Kanzler in die europäischen Abstimmungen ein.

Ihren Koalitionsvertrag können die künftigen Partner kurz fassen – Detailplanungen dürften in einem halben Jahr ohnehin Makulatur sein. Auch wenn das Verfahren grenzwertig ist, sollten sich die Parteien der demokratischen Mitte im alten, noch bis Ende März aktionsfähigen Bundestag auf eine drastische Ausweitung des Bundeswehr-Sondervermögens verständigen. Zusätzliche 200 Milliarden Euro sind eher die Untergrenze.

Der künftige Kanzler Merz muss tun, was Amtsinhaber Scholz dreieinhalb Jahre lang versäumt hat – das Etablieren einer koordinierten, für alle vertrauenswürdigen Führungsgruppe aus großen EU-Staaten, die sich eng mit den britischen Partnern abstimmen. Nicht vergessen: Es ist und bleibt Trumps Ziel, die EU zu zerstören.

Welche Schritte müssen die westlichen Bündnispartner jetzt tun?

Die europäischen Nato-Staaten und ihre Partner wie Kanada, Australien und Japan haben bestenfalls einige Jahre Zeit, um sich wirtschaftlich, technologisch und militärisch so aufzustellen, dass sie gegen Russland, China und leider auch gegen US-Drohungen bestehen können. Aus deutscher Sicht wird man kaum um eine eingeschränkte Reaktivierung der Wehrpflicht, vielleicht durch ein Auswahl-Verfahren nach schwedischem Muster, herumkommen. Denn: Die europäischen Staaten benötigen nach einer Berechnung des Brüsseler Forschungsinstituts Bruegel und des Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW) 300.000 weitere Soldaten, um sich im Kriegsfall ohne US-Unterstützung gegen Russland zu verteidigen.

Jährlich wären in der EU zudem etwa 250 Milliarden Euro zusätzlicher Wehrausgaben notwendig. Deutschland steht für ein Fünftel der EU-Bevölkerung und ein Viertel der EU-Wirtschaftskraft. Da kann man sich die auf unser Land zukommenden Lasten leicht ausrechnen. Würde sich Deutschland proportional zur Bevölkerungszahl am Streitkräfteaufbau beteiligen, hieße das: 60.000 zusätzliche Bundeswehrsoldaten, ein Drittel mehr als die heutigen 181.000. Zum Vergleich: 2010, im letzten Jahr vor Aussetzung der Wehrpflicht, hatte die Bundeswehr 246.000 Soldatinnen und Soldaten, davon ein Viertel Wehrdienstleistende (Grundwehrdienst und freiwilliger Wehrdienst).

Die Europäer müssen ihre Rüstungsproduktion koordinieren. Erstens, um für alle beteiligten Staaten die Einkaufspreise zu senken. Zweitens, um gemeinsam Waffensysteme zu entwickeln, die ihnen bisher fehlen, etwa Mittelstreckenraketen oder Kampfjets der fünften und sechsten Generation.

Und ja, sie müssen tun, was Scholz immer ablehnte: Über einen europäischen Atomschirm reden. Was einfacher gesagt als getan ist, denn die britischen und französischen Systeme sind auf U-Booten stationierte strategische Waffen und damit nicht geeignet, dem notorischen russischen Drohen mit dem Einsatz nuklearer Gefechtsfeldwaffen zu begegnen. Dagegen hilft eher das, was der frühere US-Präsident Joe Biden im russisch-ukrainischen Krieg getan hat: Er ließ Putin mit seinen Nukleardrohungen auflaufen, indem seine Leute höchst inoffiziell klarstellten, dass ein russischer Nuklearschlag keine nukleare, aber sehr wohl eine harte konventionelle Antwort finden werde. Der US Air Force und den US-Marinefliegern war eine solche konventionelle Antwort auch zuzutrauen. Aber den europäischen Luftwaffen?

Alle Überlegungen führen immer wieder zum gleichen Punkt: Die von den USA im Stich gelassenen Bündnispartner, allen voran das wirtschaftsstärkste EU-Land Deutschland, müssen alle verfügbaren Ressourcen auf die Sicherung ihres eigenen Überlebens als souveräne und demokratische Staaten konzentrieren. Mit einer Spielernatur wie Trump gibt es keine belastbaren Absprachen. Und ein Diktator wie Wladimir Putin, der seine Streitkräfte und Geheimdienstler in der Ukraine morden und foltern lässt, wird sich an keine Stillhalteversprechen dauerhaft gebunden sehen.

Hilfen für die Ukraine und andere bedrohte Länder wie Moldawien sind keine Mildtätigkeit, sondern liegen in unserem eigenen Interesse – so lange diese Länder standhalten, bleiben Putins Truppen zumindest im Schwarzmeerraum auf Distanz zur Nato-Ostgrenze. Auf längere Sicht mögen die erforderlichen Rüstungsinvestitionen sogar einen gewissen Rückfluss in die Staatskassen auslösen, denn sie schaffen hochwertige Arbeitsplätze und treiben die Entwicklung auch zivil nutzbarerer Technologien voran. Aber das ist eine Hoffnung auf lange Sicht – aktuell, in den nächsten Jahren, überwiegen die Lasten. Sie aufzufangen muss jetzt auch in der Finanzpolitik oberste Priorität haben. Die von Merz versprochenen Steuersenkungen etwa werden auf Jahre hinaus keine Chance haben.