Der ehemalige Papst Benedikt XVI. ist am heutigen Samstag im Alter von 95 Jahren verstorben. Ein Nachruf.
Nachruf auf Benedikt XVI.„Nicht die Gelehrten bestimmen, sondern der Taufglaube“
Wenn ein Papst stirbt, werden seine Gemächer versiegelt. Auf der ganzen Welt läuten Glocken, während nach christlichem Verständnis die Seele des Verstorbenen in den Himmel aufsteigt. Als die Wohnräume von Benedikt XVI. am Abend des 28. Februar 2013 verschlossen wurden und die Glocken des Petersdoms läuteten, ist der Papst jedoch noch höchst lebendig. Statt in den Himmel aufzufahren, entschwebt Benedikt ganz weltlich im weißen Hubschrauber, über die Kuppel des Petersdoms. Dort unten lässt er nicht nur den leeren Papststuhl zurück, sondern auch Verunsicherung und Aufruhr. Seit fast 600 Jahren hatte es kein Papst mehr gewagt, zurückzutreten. Der Tod galt als einziger Weg, aus dem Amt zu scheiden.
Benedikt XVI., der konservative, korrekte, deutsche Papst, wagte den Rücktritt. Kurienkardinal Angelo Sodano bezeichnete die Ankündigung später als „Blitz aus heiterem Himmel“. Ausgerechnet der Nachfolger von Johannes Paul II. – einem Papst, der an Parkinson litt, der den österlichen Segen Urbi et Orbi zuletzt stumm spendete, weil er kaum noch sprechen konnte – ging diesen Schritt. „Vom Kreuz steigt man nicht herab!“, so hieß es mit Blick auf das Pontifikat. Wer das Konklave als Papst verlässt, muss das Amt bis zu seinem Lebensende auszuführen – auch wenn das ein Martyrium bedeutet. So schien es.
Benedikt sah das anders. Er begründete den Rücktritt mit seiner Gesundheit. Warum genau er zu der Einschätzung kam, dass seine Kräfte nicht mehr zur Amtsführung reichten, darüber gibt es verschiedene Ansichten: Ein Motiv mag die „Vatileaks“-Affäre um seinen Kammerdiener Paolo Gabriele gewesen sein, in deren Zuge vatikanische Geheimdokumente an die Öffentlichkeit gelangt waren. Sie könnte Benedikt zu der Einschätzung veranlasst haben, dass ein jüngerer Papst mit frischen Kräften hier aufräumen müsse. Das muss eine weitere Erklärung nicht ausschließen: Der konservative Papst habe eingesehen, dass jedenfalls er mit seinen Mitteln den Kampf um fundamentale kirchliche Werte in einer modernen Zeit nicht gewinne könne.
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Benedikt XVI.: Gläubige nahmen ihm Rücktritt nicht übel
Die Gläubigen nahmen ihm seinen Rücktritt nicht übel. Als Benedikt in den letzten Stunden seines Pontifikats ans Fenster der Residenz in Castel Gandolfo trat, jubelten ihm die Menschen zu. In der Abendsonne dankte er den Gläubigen, segnet sie und verabschiedet sich mit einem „Buonanotte“. In der ersten Reihe hielten Katholiken ein Transparent hoch; darauf stand: „Deine Demut hat dich noch größer gemacht. Danke Papst Benedikt.“
Benedikt XVI. war ein Denker, ein Intellektueller – mehr Wissenschaftler als Menschenfischer. Mit 30 Jahren legte er seine Habilitationsschrift vor. 1957 war das. Damals noch unter seinem bürgerlichen Namen Joseph Aloisius Ratzinger. Als Professor sprach er vor vollen Hörsälen – in Bonn, in Münster, in Tübingen, in Regensburg. Seine Fachgebiete mögen für viele nach grauer Theorie klingen: Fundamentaltheologie, Dogmatik, Eschatologie (die Lehre von den letzten Dingen). Im Leben des Intellektuellen bedeuteten sie eine Besinnung aufs Wesentliche, den Kern der Religion. Und wer bei Ratzinger studieren durfte, erzählt noch heute davon.
Kaum zu überschätzen ist die Rolle des Bonner Professors Ratzinger als Berater des Kölner Erzbischofs Joseph Kardinal Frings. Ratzinger arbeitete für Frings den programmatischen Vortrag über „Das Konzil und die moderne Gedankenwelt“ aus, der auf enthusiastische Anerkennung bei Papst Johannes Paul XXIII. stieß, und Ratzinger hatte dann auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil selbst maßgeblichen Einfluss auf die Konstitution „Dei Verbum“ über das Verständnis der Offenbarung.
Wie kam es, dass dieser hoch angesehene und als ausgemacht fortschrittlich geltende Theologe ein paar Jahrzehnte später als Exponent des Konservativismus galt? Ratzinger-Anhänger würden sagen: Er hat sich gar nicht geändert, sondern sah nur mit Entsetzen, wie sehr die Beschlüsse des Zweiten Vatikanums missverstanden wurden. Psychologisierende Deutungen beziehen sich auf traumatische Erfahrungen, die der Professor Ratzinger mit der Studentenrevolte der späten 1960er Jahre machte (und die ihn am Ende dann ja auch zum Wechsel ins stille Regensburg bewegten). Letzten Endes war es aber wohl der Rollenwechsel vom Professor zum kirchlichen Amtsträger, der dazu führte, dass sich Ratzingers Image geradezu umkehrte: Die Berufung des zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht einmal 50-Jährigen zum Erzbischof von München und Freising 1977 mit Kardinalserhebung schon im gleichen Jahr, dann der Wechsel an die Spitze der Glaubenskongregation unter Papst Johannes Paul II. viereinhalb Jahre später.
Bezeichnend jene Predigt, in der der Münchner Kardinal Ratzinger 1979 den Entzug der kirchlichen Lehrerlaubnis für seinen Tübinger Professorenkollegen Hans Küng, der ihn einst gefördert hatte, rechtfertigte. „Nicht die Gelehrten bestimmen, was an dem Taufglauben wahr ist, sondern der Taufglaube bestimmt, was an den gelehrten Auslegungen gültig ist“, erklärte Ratzinger da – ein Satz, der später auch sein Handeln als oberster Glaubenswächter bestimmte. Eine Aufgabe, unter der Ratzinger zunehmend litt. Mehrfach bat der gebürtige Oberbayer den Papst, ihn von dieser Aufgabe zu entbinden. „Dieses Leben ist sehr hart. Ich warte ungeduldig auf die Zeit, in der ich noch einige Bücher schreiben kann“, argumentierte Ratzinger. Es kam anders.
„Wir sind Papst!“ titelte die Bild-Zeitung am 20. April 2005. Die Kardinäle hattenJoseph Ratzinger einen Tag zuvor zum Nachfolger des verstorbenen Johannes Paul II. gewählt. Nur vier Monate später reiste der Deutsche als Benedikt XVI. zum Weltjugendtag nach Köln – seine erste offizielle Auslandsreise als Kirchenoberhaupt und eine Nagelprobe: Kann er die Massen in gleichem Maße begeistern wie sein Vorgänger? Ausgerechnet einer, der bislang mit wenig liebevollen Spitznamen wie „Panzerkardinal“ oder „Großinquisitor“ bedacht worden war? Die Sorge war offensichtlich unbegründet. Als Benedikt vor dem Kölner Dom die Stadt als „Rom des Nordens“ würdigte, jubelten ihm die Gläubigen zu. Sie erlebten einen zugewandten, strahlenden Papst, der über seine engen Bindungen an Köln und seine Freundschaft zu drei Kölner Kardinälen – Frings, Joseph Höffner, Joachim Meisner – sprach.
Theologisch wird Benedikt XVI. jedoch vielen als Konservativer, manchen als Hardliner in Erinnerung bleiben. Einer, der auf zugespitzte Formulierungen (Abtreibungen als „Kultur des Todes“) setzte, der Ehen gleichgeschlechtlicher Paare kategorisch ablehnte und der in der Ökumene Mauern eher verstärkte als einriss. Noch in seinem geistlichen Testament distanzierte er sich von drei bedeutenden evangelischen Theologen. Als Papst ließ der die vorkonziliare, tridentinische Form der Messe wieder allgemein zu – ein Schritt, den sein Nachfolger Franziskus bald korrigierte.
Benedikt und seine Berater wie aus der Zeit gefallen
Und doch: In einer Welt neuer Medien, kompakter Zitate und schneller Reaktionen taten sich Benedikt und seine Berater schwer, wirkten manchmal wie aus der Zeit gefallen. Die muslimische Welt verärgerte der Papst mit der „Regensburger Rede“ 2006, in der mit einem historischen Zitat über Mohammed spielte, der nur Schlechtes und Inhumanes gebracht habe. Aber ob Zitat oder eigene Worte – Religionsvertreter sprachen von Beleidigung und Gotteslästerung. Der Zorn in der islamischen Welt wuchs. Benedikt XVI. reagierte mit einer Klarstellung: Der Papst distanzierte sich vom zitierten mittelalterlichen Text, betonte, der gebe nicht seine persönliche Meinung wieder. Er bedauere, wenn sein Vortrag als beleidigend aufgefasst worden sei. Auch wenn das keine Entschuldigung im engeren Sinne war, fasste die muslimische Welt die Worte des Papstes weitgehend als solche auf und zeigte sich versöhnt. Dass dieser Papst kein Islamhasser war, demonstrierte er spätestens bei einer Reise in die Türkei. Ein sichtlich stolzer Präsident Recep Tayyip Erdogan erklärte anschließend: „Der Papst hat mir zugestimmt, dass der Islam eine Religion des Friedens und der Toleranz ist.“
Einen Mangel an Fingerspitzengefühl zeigte Benedikt auch, als er die Exkommunikation von vier Bischöfen der Pius-Bruderschaft aufhob – darunter der britische Holocaust-Leugner Williamson. Das israelische Oberrabbinat reagierte empört und mit ihm fast der gesamte Rest der Welt. Aus Vatikan-Sicht gab es aber keinen Grund mehr für einen Verstoß aus der römisch-katholischen Kirche: Die Bischöfe hatten den Primat des Papstes anerkannt. Das genügte offenbar. Allerdings sympathisierte der Papst, der als 14-Jähriger in die Hitlerjugend gezwungen und als Luftwaffenhelfer eingesetzt worden war, keineswegs mit der Ideologie eines Williamson.
2006 hatte Benedikt das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau besucht, Überlebende getroffen und anschließend im Beisein von Polens Großrabbiner auf Italienisch gesagt, er sei gekommen, um die „Gnade der Versöhnung“ zu erbitten. 2005 hatte er als erster Papst eine deutsche Synagoge – die an der Kölner Roonstraße – besucht und verkündet, sich für den „vertrauensvollen Dialog“ zwischen den beiden Religionen einsetzen zu wollen. Am Ende des Pontifikats sprach der israelische Oberrabiner von einer sehr guten Beziehung.
Umstrittene Haltung zur Sexualmoral
Umstritten blieb die Haltung dieses Papstes zur Sexualmoral. 2011 hielt Benedikt XVI. als erster katholisches Kirchenoberhaupt eine Rede vor dem Deutschen Bundestag. Rund 80 Parlamentarier blieben aus Protest fern. Linken-Abgeordnete trugen rote Aids-Schleifen als Reaktion auf das kirchliche Kondomverbot. Selbst nach seinem Rücktritt irritierte Benedikt weiter mit Äußerungen zu Missbrauch, Sexualmoral, Zölibat.
Sein Pontifikat wird dennoch in die Kirchengeschichte eingehen als Wendepunkt im Umgang mit sexualisierter Gewalt in der römisch-katholischen Kirche. 2010 bat der Papst Missbrauchsopfer bei einer Messe auf dem Petersplatz öffentlich um Vergebung. Nach und nach zeichnete sich das Ausmaß der sexualisierten Gewalt, vor allem an Kindern, ab und im Zusammenhang damit die Vertuschung kirchlicher Verbrechen. Diese Auseinandersetzung überschattete auch seine eigene Biographie.
So unbestritten die Verdienste sind, die Ratzingers als Präfekt der Glaubenskongregation bei der Erarbeitung neuer Regularien zum Umgang mit Missbrauchstätern hatte, so sehr wurde er selbst durch Vorwürfe hinsichtlich seiner Amtsführung als Erzbischof von München und Freising belastet. Unter anderem ging es um den Einsatz eines aus dem Bistum Essen stammenden, einschlägig belasteten Geistlichen, der dann im Erzbistum München weitere Verbrechen beging. Ein im Frühjahr 2022 veröffentlichtes Gutachten der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl konnte dem ehemaligen Erzbischof zwar nicht mit letzter Sicherheit nachweisen, dass er von der Vergangenheit des Mannes wusste – aber genau das war das Problem: Auf der entscheidenden Sitzung seines erzbischöflichen Rates referierte Ratzinger über den Fall Küng und die Beisetzung des Berliner Kardinals Alfred Bengsch, scheint den Fall des Pfarrers also schlicht seinem Generalvikar überlassen zu haben. Am Ende hat sich Benedikt zwar mit einiger Verzögerung entschuldigt, aber auch dabei nicht eingeräumt, dass er seine Verantwortung nie in dieser Form hätte delegieren dürfen.
Diese Auseinandersetzung erlebte der „Papa emeritus“ in seiner letzten Wohnung nicht weit weg von seiner früheren Wirkungsstätte, im Kloster Mater Eccesiae, rund 200 Meter hinter dem Petersdom. Seine Rolle war heikel. Sein Sekretär Georg Gänswein spekulierte über ein zwischen Franziskus und Benedikt geteiltes Papstamt, und dann beteiligte sich der Ex-Papst auch noch an einem Buchprojekt des Franziskus-Kritikers Robert Kardinal Sarah. Das alles nach wie vor als „Heiligkeit“ in weißer Soutane, wenn auch – aber wem fiel dieses Detail schon auf? – ohne Schulterumhang. Und ohne die zuvor getragenen roten Schuhe, auf die Franziskus allerdings seinerseits auch nie Wert legte. Franziskus hat aus diesen Erfahrungen jedenfalls die Konsequenz gezogen, dass er selbst im Fall eines Amtsverzichts nur emeritierter Bischof von Rom genannt werden will.
Benedikt XVI. fiel am Ende nicht nur das Gehen schwer, sondern das galt auch für das Lesen, Schreiben und Sprechen. In einem kurzen Brief an die italienische Tageszeitung „Corriere della Sera“ schrieb Benedikt schon 2018, er befinde sich „innerlich auf einer Pilgerfahrt nach Hause“. In seiner „Einführung in das Christentum“ aus den 1960er Jahren hatte der damalige Professor Ratzinger geschrieben: „Christlicher Glaube lebt davon, dass es nicht bloß objektiven Sinn gibt, sondern dass dieser Sinn mich kennt und liebt, dass ich ihm mich anvertrauen kann mit der Gebärde eines Kindes[…]“. In diesem tiefen Vertrauen auf die Geborgenheit in Gott sah offenbar auch Benedikt XVI. seinem Tod entgegen. Sein Privatsekretär Georg Gänswein hatte vorausgesagt, dass Benedikt „wie eine Kerze langsam und in Ruhe“ erlösche.