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Corona-PolitikWie viel wir uns tatsächlich verzeihen müssen

Lesezeit 6 Minuten
ARCHIV - 07.10.2020, Sachsen, Dresden: Ein Schild "Bitte Mundschutz tragen" ist am Eingang des Krankenhauses St. Joseph-Stift angebracht.

Die Corona-Schutzmaßnahmen sorgen noch lange für Stoff zur Diskussion

„Wir werden einander viel verzeihen müssen“, sagte der damalige CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn in der Pandemie. Doch die Aufarbeitung lässt auf sich warten.

Neulich saß Gesundheitsminister Karl Lauterbach bei Markus Lanz in der Talk-Show. Die Sendung geriet zu einem Kreuzverhör über die deutsche Corona-Politik – und Lauterbach räumte erstmals Fehler offen ein. Die Schulschließungen? Im Rückblick „ein Riesenfehler“. Verbote von Treffen unter freiem Himmel? „Schwachsinn.“ Ja, und auch Impfschäden kämen vor. Den Betroffenen müsse geholfen werden.

Die ganz große Frage, ob der deutsche Corona-Kurs mit seinen langen Lockdowns und dem Ausschluss von Ungeimpften aus dem öffentlichen Leben in dieser Form gerechtfertigt war und welche Schlüsse daraus für die Zukunft zu ziehen sind, wurde aber nicht beantwortet: Kann die Politik nach den Jahren der Pandemie einfach zur Tagesordnung übergehen?

Wenn ein Krieg die Krise überlagert

Ukraine-Krieg und Energiekrise haben die Pandemie von der Agenda verdrängt. Manche finden trotzdem: Nein. Aufarbeitung muss sein. Doch die Überzeugung, dass es eine vom Bundestag beauftragte, systematische Untersuchung braucht, teilen längst nicht alle.

Wie ein Weckruf kamen vor einem Monat die Ausführungen des streitbaren Chefs der Kassenärztlichen Vereinigung Gassen daher, der im Interview mit unserer Redaktion „eine ehrliche Aufarbeitung“ forderte. „Eine Aufarbeitung nicht im Sinne von Schuldzuweisungen, sondern im Sinne des Lernens ist absolut sinnvoll. Was lief gut? Was lief schlecht? Wo müssen wir besser werden?“ Es fehle bislang eine „ehrliche Bilanz“.

Es zeigt sich allerdings, dass das Ob und Wie der Aufklärung in im Bundestag höchst umstritten ist. Die einen fürchten, dass ein offizielles Verfahren nur dazu genutzt werden könnte, parteipolitische Schuldzuweisungen zu adressieren. Andere halten politische Aufarbeitung für unumgänglich, um den gesellschaftlichen Frieden wiederherzustellen.

Furcht vor Spaltung der Gesellschaft

Erst in der Vorwoche scheiterte die AfD-Fraktion im Bundestag mit dem Versuch, einen Untersuchungsausschuss zur Corona-Politik einzurichten. Der Antrag, insbesondere die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen und das Verhalten der Bundesregierung zu untersuchen, fand erwartungsgemäß keine Mehrheit. Der Antragsteller und AfD-Gesundheitspolitiker Thomas Seitz, übrigens selbst einmal so schwer an Corona erkrankt, dass er ins künstliche Koma versetzt werden musste, ist deshalb überzeugt: „Es gibt kein ehrliches Interesse an einer Aufarbeitung, weil es bei allen Parteien im Bundestag außer bei der AfD Verantwortliche für den Umgang mit der Pandemie gibt.“ Er hält es auch ohne Untersuchung bereits jetzt für erwiesen, dass eine „Schädigung von Menschen durch Impfungen billigend in Kauf genommen wurde“.

Ein Untersuchungsausschuss ist ein scharfes Schwert. Zu scharf, finden andere, und unterstellen der AfD grundsätzlich Kalkül. Es wäre eine Art politisches Ermittlungsverfahren, einem Gerichtsverfahren nicht unähnlich. Das will außer der AfD niemand.

Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen meint: „Ein Untersuchungsausschuss ist schlicht das falsche Instrument. Ja, es wurden Fehler gemacht, und wir müssen aus diesen Fehlern für künftige Pandemien oder Gesundheitskrisen lernen. Die AfD versucht hier aber einfach erneut mit wissenschaftsfeindlichem Populismus notwendige Pandemiebekämpfung verantwortlichen Regierungshandelns zu skandalisieren.“

Dahmen unterstellt, dass es den Antragstellern um eine echte Aufklärung gar nicht geht. „Verschiedene Akteure aus dem Querdenker-Milieu versuchen derzeit nachträglich eine Umdeutung der objektiven Geschehnisse und eine Art Jüngstes Gericht zu installieren, um Wissenschaftler zu diskreditieren und demokratische Parteien unter Beschuss zu nehmen.“ Damit aber, ist er überzeugt, würde man der Aufklärung „einen Bärendienst erweisen“.

Der Grünen-Politiker hält eine Aufarbeitung, die dabei helfen würde, auf künftige Gesundheitskrisen besser vorbereitet zu sein, zwar eigentlich für sinnvoll, im politischen Raum aber derzeit aus genannten Gründen für schier unmöglich. „Das ist bitter.“ Stattdessen müsste man die gezogenen Lehren aus der Pandemie in der Praxis umsetzen, was unter anderem heiße, die Digitalisierung im Gesundheitswesen voranzutreiben und dafür zu sorgen, dass genügend Fachkräfte vorhanden und die Krankenhäuser besser organisiert würden. Handeln statt aufarbeiten also.

Enquete-Kommisson statt Untersuchungsausschuss?

Andere Ampel-Politiker sind dagegen überzeugt, dass eine Enquete-Kommission eingerichtet werden muss. FDP-Vizechef Wolfgang Kubicki und der Gesundheitsexperte der Liberalen, Andrew Ullmann, werben für die Kommission, die anders als ein Untersuchungsausschuss vor allem wissenschaftliche Empfehlungen für die Zukunft erarbeiten würde. Kubicki, überzeugter Kritiker einer Impfpflicht, sagte unserer Redaktion: „Es wird eine Enquete-Kommission geben. Wir sind in sehr konstruktiven Gesprächen mit unseren Koalitionspartnern, von denen ich nicht weiß, warum sie sich eigentlich gegen eine Enquete-Kommission wehren. Wir brauchen sie als Gesellschaft unbedingt.“

Kubicki ist überzeugt: „Wir kriegen die Gesellschaft nur wieder zusammengeführt, wenn wir als Politik die Fehler klar benennen, die gemacht wurden.“ Ihn persönlich habe „auf die Barrikaden getrieben“, dass ungeimpfte Menschen ausgeschlossen wurden. „Was ist das für eine Denkweise? Niemand hat mehr reflektiert, ob das mit der Menschenwürde unseres Grundgesetzes vereinbar ist.“ Es habe ihn überrascht, mit welcher Geschwindigkeit die Menschen bereit waren, Grundrechte wegzufegen. FDP-Mann Ullmann räumt ein, dass man die Koalitionspartner der Ampel „noch nicht auf unserer Seite“ habe. „Ich halte eine Enquete-Kommission aber für unausweichlich, um eine verantwortungsbewusste Politik zu beweisen.“

Wenn man mit Janosch Dahmen spricht, hat man aber nicht den Eindruck, dass die FDP offene Türen einrennt. Er sagt: „Wolfgang Kubicki hat während der Pandemie immer wieder extreme Positionen vertreten und durch eine zum Teil AfD-nahe Rhetorik versucht, eine gesellschaftliche Spaltung herbeizureden. Mit fehlt die Phantasie zu glauben, dass ausgerechnet er Interesse an seriöser nach vorne gerichteter Aufarbeitung hat.“ Eine solche eher theoretische Kommission sei mit hohem Aufwand, Bürokratie und Kosten verbunden. „Und es besteht die Gefahr, dass es am Ende eher ein Kampf um Deutungshoheiten und nachträgliche Schuldzuweisungen wird, und damit weiteres Vertrauen der Bevölkerung verloren geht.“

Corona-Zeit: Kritische Studien zur Schließung der Schulen

Beim größten Ampel-Partner, der SPD, hat man sich unterdessen „noch keine abschließende Meinung“ gebildet. Fraktionsvize Dirk Wiese gibt zu bedenken, dass eine Enquete-Kommission nicht der Weisheit letzter Schluss sei. Über die Verfassungsmäßigkeit der Maßnahmen habe das Bundesverfassungsgericht bereits entsprechende Urteile gefällt. Auch der Ethikrat habe bereits eine Stellungnahme auf den Weg gebracht. Zu den Schulschließungen gebe es zudem inzwischen wichtige kritische Studien.

Die Aufarbeitung laufe also bereits, betont Wiese – an vielen Stellen. „Man muss sich gut überlegen, welches Gremium das richtige ist, um für künftige Pandemien die richtigen Schlüsse zu ziehen“, meint der SPD-Politiker. Eine Enquete-Kommission sei nicht im Koalitionsvertrag vereinbart. Wenn eine Kommission, dann müsste es dafür einen „breiten Konsens“ im Parlament geben.

Das sieht man auch in der Opposition so. CDU-Gesundheitspolitiker Tino Sorge sagt: „Wir müssen das aufarbeiten. Ich halte es für sehr wichtig als Signal, dass wir aus den Entscheidungen in der Pandemie lernen wollen.“ Dazu wären eine Enquete- oder auch eine Bund-Länder-Kommission geeignet. Man müsste sich über Fraktionsgrenzen hinweg über den Untersuchungsauftrag einigen. Dazu gehöre das Eingeständnis von Fehlern. Gleichzeitig dürfte niemand an den Pranger gestellt werden.

„Die Ampel muss die Initiative ergreifen“, meint der CDU-Experte. Er hält es aber für besser, dem Prozess genügend Vorbereitungszeit zu lassen – zumal der Bund, die Länder und externe Experten einzubeziehen wären, wie er meint. Sorge findet: Besser nichts überstürzen.