Es gibt keine Hoffnung auf weitere Überlebende. Obwohl Hunderte Migranten ertrunken sind, bleibt ein kollektiver europäischer Aufschrei aus.
Katastrophales BootsunglückDas Mittelmeer vor Griechenland wird erneut zum Massengrab
Nach dem schweren Bootsunglück mit vermutlich bis zu 500 Toten haben sich am Freitag in der griechischen Hafenstadt Kalamata dramatische Szenen abgespielt. Seit dem Untergang des völlig überfüllten Fischkutters am Mittwoch waren aus ganz Europa Angehörige angereist, um herauszufinden, ob der Bruder, die Schwester oder der Neffe überlebt hat. Meist ohne Erfolg: Nur 104 Menschen konnten gerettet werden, 78 Menschen wurden tot geborgen, die anderen riss das Unglücksboot mit sich in die Tiefe.
Die griechischen Behörden suchten zwar am Freitag noch weiter, doch es wird davon ausgegangen, dass die Aktivitäten spätestens am Samstag eingestellt werden.
Während nach derartigen Katastrophen noch bis vor kurzem Politiker aller Länder die Zustände anprangerten, blieb es diesmal erstaunlich still. Wer sich äußerte, verwies zumeist darauf, dass man nun endlich dafür sorgen müsse, dass die Menschen sich gar nicht erst auf den Weg machten. Von Bundeskanzler Olaf Scholz hieß es: „Das ist bedrückend“, von Innenministerin Nancy Faeser „Wir dürfen nicht abstumpfen“ und von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, sie sei „zutiefst betrübt“.
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„Business as usual“ für Europa?
„Der Abgrund Europas liegt in den Worten ohne Mitleid und Bedeutung, die nach einer Tragödie wie der von Pylos (Peloponnes) ausgesprochen werden“, kommentierte die italienische Zeitung „La Stampa“ am Freitag. Es sei von Migrationsströmen die Rede, aber die aktuelle Tragödie verdiene nicht einmal eine Randbemerkung, obwohl es sich um eine der schlimmsten Tragödien aller Zeiten handele. „Für Europa ist es so, als wäre es business as usual“, bilanzierte die Zeitung.
Auch UN-Organisationen kritisierten die EU. „Es ist klar, dass das derzeitige Konzept für das Mittelmeer nicht funktioniert“, teilte der Direktor der Abteilung für Notfälle der UN-Organisation für Migration (IOM) mit. Die EU müsse Sicherheit und Solidarität in den Mittelpunkt ihres Handelns stellen, hieß es von der stellvertretenden Hochkommissarin für Flüchtlinge, Gillian Triggs.
Proteste in Griechenland
In Griechenland gingen am Donnerstag 8000 Menschen auf die Straße, um gegen die EU-Migrationspolitik zu protestieren, wie das Staatsfernsehen zeigte. „Die EU bringt Menschen um“, hieß es auf den Transparenten. Die EU-Staaten hatten sich erst vergangene Woche auf umfassende Reformen in der Asylpolitik verständigt. Unter anderem sollen Asylanträge von Migranten an den EU-Außengrenzen binnen zwölf Wochen geprüft werden. Währenddessen sollen die Menschen in streng kontrollierten Aufnahmeeinrichtungen bleiben.
In Griechenland werfen linke Parteien der konservativen griechischen Regierung der vergangenen vier Jahre vor, für das Unglück mitverantwortlich zu sein. Weil die Regierung die Kontrollen in der Ägäis massiv verschärft habe, nutzten die Migranten nun die viel weitere und gefährlichere Route um Griechenland herum direkt nach Italien. 2022 kamen laut UN in dieser Region 326 Menschen ums Leben.
Mutmaßliche Schleuser festgenommen
Der griechische Sozialdemokrat Nikos Androulakis bezeichnete in einem Interview vor allem das Geschäft der Schleuser als Problem. „Ihr Business ist so groß wie das Bruttoinlandsprodukt mancher EU-Staaten“, sagte er. Nach Angaben Überlebender hatten die Flüchtlinge für die Überfahrt rund 5000 Euro pro Kopf gezahlt.
Neun der Überlebenden hatte die griechische Polizei bereits am Donnerstag als mutmaßliche Schleuser festgenommen - die Männer mit ägyptischer Staatsbürgerschaft sollen wegen Menschenhandels und fahrlässiger Tötung angeklagt werden.
Diskussion um griechische Küstenwache
Die Behörden untersuchen auch die Zuständigkeit der Küstenwache - sie hatte der Besatzung des Bootes nach eigenen Angaben mehrfach per Funk Hilfe angeboten, doch diese sei ausgeschlagen worden. Viele fragen sich, wieso die Beamten nicht trotzdem tätig wurden. Der Sprecher der Behörde erklärte, ein Eingreifen in internationalen Gewässern sei nicht möglich, wenn der Kapitän des Bootes dies ablehne.
Neben dem fast unmenschlichem Leid kam es am Freitag in Kalamata auch zu rührenden Szenen: So fand ein Syrer, der aus den Niederlanden angereist war, unter den Überlebenden seinen Bruder, wie der Sender Skai zeigte. Die Überlebenden wurden im Laufe des Freitags in ein Auffanglager gebracht. Dort können sie Asyl beantragen. Für die vielen Menschen, die das Boot mit sich in die Tiefe zog, ist es hingegen zu spät. Überlebende berichteten, dass rund 100 Kinder an Bord waren. (dpa)