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Interview

Bischof Bätzing
„Wir müssen für unsere gute Botschaft werben“

Lesezeit 14 Minuten
Georg Bätzing, Bischof von Limburg und Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz

Georg Bätzing, Bischof von Limburg und Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz

Bischof Georg Bätzing sieht Reformnotwendigkeiten in der katholischen Kirche, besonders bezüglich Frauenrechten, und erkennt gesellschaftliche Herausforderungen wie Migration an. Wir haben mit ihm gesprochen.

Herr Bischof, kurz vor dem höchsten christlichen Fest – Ostern – wurden neue Daten bekannt: Mehr als jeweils 300.000 Menschen sind im letzten Jahr aus der katholischen und aus der evangelischen Kirche ausgetreten, nur noch 45 Prozent der Einwohner Deutschlands gehören einer dieser beiden Kirchen an. Sind die Leute für die christliche Botschaft gar nicht mehr zu erreichen?

Wir befinden uns seit Jahrzehnten in einer Krisensituation. Teilweise hat sie mit eigenen Fehlern zu tun, mit Skandalen, vor allem mit den Verbrechen des sexuellen Missbrauchs. Mit Vertrauensverlust durch unsere eigene Schuld. Es gibt aber auch einen Faktor, den wir nicht beeinflussen können: Das stark institutionenkritische Verhalten in einer liberalen Gesellschaft. Die Menschen entscheiden sich frei. Das ist ein hoher Wert, das heißt aber auch: Wir müssen für unsere gute Botschaft werben. Das müssen wir neu lernen. Auch dann werden wir nicht zu einer massenhaften Kirchlichkeit zurückkehren, aber wir können der Entwicklung etwas entgegensetzen. Einerseits müssen wir als Christinnen und Christen uns selbst neu evangelisieren. Und andererseits glaube ich schon, dass Menschen nach Orientierung suchen. In Frankreich sehen wir derzeit ein überraschendes Phänomen: Ungewöhnlich viele Erwachsene lassen sich taufen. Niemand kann genau erklären, woran das liegt. Aber wir spüren: Die Menschen suchen Orientierung und Halt.

Sind die Kirchen selbst zu sehr aufs Institutionelle fixiert? Umweltverbände zum Beispiel haben auch bei wenigen Mitgliedern mit ihren Botschaften große Resonanz.

Ich glaube, dass wir auch Resonanz finden. Mir ist es lieber, wenn meine Argumente zählen, als wenn ich als Lobbyvertreter einer möglichst großen und mächtigen Institution gelte. Die Kirchen werden kleiner, sie werden ärmer. Das heißt aber nicht, dass unsere Argumente in Fragen des Lebensschutzes, der Sicherheit, der Migration, der Klima- und Schöpfungsverantwortung, nicht Gehör finden und aufgenommen werden.

Nun gibt es auf katholischer Seite Leute, die sagen: Schaut euch die evangelische Kirche an. Die verliert noch stärker, obwohl sie synodal verfasst ist, Frauen Zugang zu allen Ämtern haben und jegliche sexuelle Identität akzeptiert wird. Also halten wir in der katholischen Kirche lieber am Überlieferten fest und bauen auf dieser Grundlage neu auf …

Papst Franziskus hat gesagt: Es gibt schon eine gute evangelische Kirche. Damit meinte er: Wir sollten unterscheidbar bleiben, und dafür bin ich auch. Ich sehe aber, welche Hürden wir gerade für junge Menschen aufbauen. Junge Frauen etwa, die mir sagen, solange in der katholischen Kirche Frauen der Zugang zu sakramentalen Ämtern verschlossen ist, sei sie für sie keine Option.

Aber lässt sich das ändern? Der Bonner Kirchenrechtler Norbert Lüdecke hält Ihnen vor, es sorge nur für Frustration, wenn man in solchen Fragen Reformhoffnungen wecke.

Dazu kann ich nur sagen: Das Gegenteil ist bewiesen. Die Frage des Zugangs von Frauen zum Diakonat liegt auf dem Tisch der gesamten Weltkirche. Sie ist ins Abschlussdokument der letzten Weltsynode aufgenommen worden. Die Unkenrufe, man führe die Leute hier an der Nase herum, die haben sich nicht bewahrheitet. Solche Reformen werden keine Trendumkehr bringen. Aber wenn diese Hürden genommen sind, hilft uns das, mit Menschen überhaupt wieder über das Entscheidende des Glaubens zu reden. Also: Hast du für Gott einen Platz in deinem Leben? Und was bedeutet das? Oder funktioniert deine Welt gut ohne Gott und du lässt ihn außen vor?

Und wie erklären Sie den Menschen diesen Glauben? Zum Beispiel die Ostergeschichte. Was besagt sie heute?

Geht es Ihnen nicht auch so? Sie wachen auf und fragen sich, ob sie in einer anderen Welt leben. Der Überfall auf die Ukraine vor drei Jahren. Die Wahl von Donald Trump. Eine Welt der Egomanen nach dem Motto: Wenn jeder an sich denkt, ist ja an alle gedacht.

Na, die Regierung Trump nimmt kollektiv Bibelstunden. Vizepräsident JD Vance und Außenminister Marco Rubio geben sich höchst katholisch.

Und ein Putin mit seinem nationalistischen Größenwahn steht neben dem Patriarchen von Moskau in der Osternacht und hält eine Kerze in der Hand. Das ist das Erschütternde, dass sie ihr unchristliches Handeln auch noch christlich hinterlegen wollen. Ostern schreibt dazu die Gegengeschichte. Ostern heißt: Nein, nicht wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht. Sondern wenn einer an alle denkt. Diese Person steht vor uns. In menschlicher Sicht ein Verlierer. Von Gott bestätigt als der Weg, die Wahrheit, das Leben. Das ist eine unglaubliche Botschaft. Ein Mensch, der nichts zurückbehält, der sich selber gibt, aufgibt in den Tod hinein, für alle. Aus Liebe zu den Menschen. Von Gott bestätigt. Das ist das Zeichen der Solidarität schlechthin. Das ist die Osterbotschaft.

Jesus von Nazareth tritt in der Passion allerdings auch recht radikal auf, oder? Pilatus will sich ja irgendwie durchmogeln und fragt, ob Jesus nicht wisse, dass er ihn kreuzigen oder freilassen könne. Jesus sagt, diese Macht habe er von anderer Hand, und geht in den Tod. Ist so eine Geschichte noch vermittelbar?

Pilatus ist die Gestalt des korrupten Herrschers. Die Welt ist voll von solchen Leuten. Pilatus schickt lieber einen Unschuldigen zur Kreuzigung, als seine Macht zu gefährden. Mich fasziniert an dieser Passionsgeschichte nach Johannes, wie souverän das Opfer, der Leidende durch diese Geschichte hindurchgeht: Niemand raubt mir mein Leben, ich gebe es selbst hin. Diesen Tod kann man nicht einfach damit erklären, dass hier jemand radikale Forderungen stellte und die Mächtigen gegen sich aufbrachte, sondern hier war Gott im Spiel und forderte die Entscheidung: Auf welcher Seite stehst du? Und vor solchen Entscheidungen stehen wir auch heute.

Was bedeutet diese Entscheidung für Solidarität heute? Beispiel Migration. Die berühmte Predigt des Kölner Kardinals Rainer Maria Woelki, laut der uns in jedem Bootsflüchtling Christus begegnet. Heißt Solidarität: Wir müssen alle Flüchtlinge aufnehmen?

Das haben die Kirchen nie gefordert. Sie haben auf das Grundrecht auf Asyl verwiesen und auf das Schutzbedürfnis von Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen. Menschen in Not muss geholfen werden. Das ist in gewisser Weise radikal, aber es ist kein Lippenbekenntnis. Mitglieder der Kirchen begleiten Migrantinnen und Migranten. Allein wir als katholische Kirche haben von 2015 bis 2024 über eine Milliarde Euro für die Flüchtlingsarbeit und Fluchtprävention aufgebracht. Eines aber haben wir gesehen: Die zugespitzten Migrationsdebatten im Wahlkampf, die halfen nur den Radikalen. Jeder Mensch hat Würde. Auch Menschen auf der Flucht.

Der Koalitionsvertrag spricht sich für eine Begrenzung der Migration aus. Gibt es nicht wirklich Situationen, die die Gesellschaft überfordern, etwa wenn in Schulklassen kaum jemand mehr Deutsch spricht?

Die Fragen von Integration und Sicherheit sind für die Bevölkerung von grundlegender Bedeutung. Hier muss die Politik für einen Ausgleich sorgen, das werde ich immer unterstützen. Auf das Migrations-Kapitel im Koalitionsvertrag blicke ich teils kritisch, teils mit Zustimmung. Immerhin erkennt es an, dass unser Land ein Einwanderungsland ist und wir Einwanderung brauchen. Das Grundrecht auf Asyl bleibt gewahrt. Und auch ich erlebe ja im Gespräch mit den Kommunen, dass die Aufnahme- und Integrationsleistungen, die sie übernehmen müssen, sie an ihre Grenzen bringen. Dass der Bund jetzt mit Ländern und Kommunen für einen Ausgleich sorgen will, halte ich für sehr gut. Für falsch halte ich den Stopp des Familiennachzugs für subsidiär Geschützte. Die Familie ist ein hohes Gut. Menschen, die von ihrer Familie getrennt sind, erfahren dadurch eine erhebliche Belastung und können sich nur schwer auf den voraussetzungsvollen Prozess der Integration einlassen. Ebenso falsch ist der Stopp aller Aufnahmeprogramme. Wir wollen doch geregelte Migration auf sicheren Wegen erreichen. Und natürlich sehe ich den Ruf nach Grenzschließungen kritisch, begrüße es aber, dass der Koalitionsvertrag auf den europäischen Kontext verweist. Die Gegner der EU warten nur darauf, dass Staaten sich abschotten. Also ist die kommende Bundesregierung gut beraten, sich mit den Nachbarn abzustimmen.

Weckt die künftige Koalition denn nicht Erwartungen hinsichtlich der Begrenzung von Migration, die sich gar nicht erfüllen lassen?

Die Menschen wollen sehen, dass sich etwas tut in den großen Fragen Sicherheit, Wirtschaft, Migration, Integration. Wir haben seit 15 Monaten Grenzkontrollen, und die bewirken etwas. Aber darüber wird nicht gesprochen. Die Zahl der Migranten ist in einem erheblichen Maß gesunken. Ich wünsche dieser Bundesregierung, die ja aus der Mitte unserer Bevölkerung kommt und aus der Mitte des Parlamentes, dass sie erfolgreich ist. Ich teile die Befürchtung, dass 2029 Schlimmes zu befürchten ist, wenn sie scheitert.

Kurz vor der Bundestagswahl hatten sich Prälat Karl Jüsten im Berliner Büro der Bischofskonferenz und seine evangelische Kollegin Anne Gidion vom Unionsentwurf eines Zustrombegrenzungsgesetzes distanziert. Dann hieß es, eine Erklärung der Bischofskonferenz ist das aber nicht. Welchen Status hatte sie dann?

Es gab ein Gesetzesvorhaben, und zu Gesetzesvorhaben haben die beiden kirchlichen Büros in Berlin immer die Aufgabe, eine politische Stellungnahme der jeweiligen Kirche zu erarbeiten. Das haben sie auch in dieser überhitzten Situation getan, die im Zeichen des Wahlkampfs stand. Einen Tag zuvor hatten wir mit Prälat Jüsten besprochen, dass wir uns als Bischöfe selbst in der Hochphase des Wahlkampfs nicht äußern. Die Stellungnahme der Büros zum Gesetzesentwurf bewegte sich auch durchaus auf der Basis früherer Äußerungen der Bischöfe. Allerdings war das begleitende Anschreiben zugespitzt, mit schneller Feder geschrieben. Das war vielleicht wenig hilfreich. Aber die Stellungnahme selbst gibt die Position der beiden Kirchen gut wieder. Es ist kaum auszudenken, was passiert wäre, wenn es in der damaligen Bundestagesabstimmung die Mehrheit von Union und AfD gegeben hätte. Wie wäre die Wahl dann ausgegangen? So hat es viele Beiträge in der Situation gegeben – auch unseren – die gezeigt haben, wie wichtig es ist, sich aktiv in die Diskussion einzubringen, damit die Politik im Sinne der Bürgerinnen und Bürger gestalten kann.

Ein Fünftel der Wähler hat für die AfD gestimmt, auch Katholiken. Wie wollen Sie denn mit denen umgehen?

Wir müssen alles Bemühen daransetzen – und da ist vor allem die Politik gefordert –, diese Menschen zurückzugewinnen. Viele AfD-Wähler haben lange anders gewählt und sind offensichtlich unzufrieden mit der Politik.

Können AfD-Mitglieder in kirchlichen Gremien mitarbeiten?

Seit Jahren steht in unserer Grundordnung des kirchlichen Dienstes: Wer sich öffentlich rassistisch, antisemitisch, nationalistisch äußert und auf Ansprache nicht einlenkt, der kann auf Dauer kein kirchliches Amt in einem Gremium innehaben. Wir versuchen, mit diesen Leuten darüber zu diskutieren, wie sich ihre Haltung mit dem christlichen Menschenbild verträgt. Viele Wähler der AfD kommen aus dem katholischen Spektrum, und das macht mir die größte Sorge. Ich kann es auch nicht verstehen. Es ist ja gerade im Wahlkampf klar geworden, welche rassistischen, nationalistischen, völkischen und antieuropäischen Positionen Vertreter der AfD öffentlich beziehen. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, dass jemand, der die AfD gewählt hat, nicht weiß, was er wählt. Und das ist für mich sehr schwer auszuhalten.

Was könnte Katholiken denn an einer solchen Partei faszinieren?

Ich glaube, das ist nicht anders als bei Menschen außerhalb der katholischen Kirche: tiefe Verunsicherung und Zukunftsängste. Ängste um die wirtschaftliche Zukunft, das Auskommen der Kinder, die eigene Rente. Das wird dann mit dem Migrationsthema verbunden, und da ziehen Rattenfänger die Menschen an, wenn sie einfache Lösungen versprechen. In Wirklichkeit ist es kompliziert, aber diese Leute stehen ja nicht in Regierungsverantwortung. Und wir müssen alles dafür tun, dass sie auch niemals dahin kommen.

Im Koalitionsvertrag werden auch Verschärfungen beim Bürgergeld niedergelegt. Wie finden Sie das?

Wir haben einen Sozialstaat. Darauf bin ich ungeheuer stolz. Wir haben die unternehmerische Freiheit, aber auch die Sozialpflicht des Eigentums. Und wir müssen Menschen helfen, die – ob selbst verschuldet oder meistens doch ohne eigene Schuld – nicht in die Arbeitsprozesse zu integrieren sind.

Nun geht es der künftigen Koalition um Menschen, die vermeintlich arbeitsunwillig sind. Wieder ein falscher Zungenschlag wie bei der Migration?

Im Wahlkampf war es fast unerträglich, wie zugespitzt und auch in Schwarz-Weiß-Malerei Alternativen gezeichnet wurden. Und der Wahlkampf hat doch sehr deutlich gezeigt: Das stärkt nur die radikalen Teile in unserer Bevölkerung. Also ich würde allen empfehlen, den Bürgerinnen und Bürgern auch das Denken zuzumuten, und das heißt: die Wirklichkeit so differenziert darzustellen, wie sie ist und nicht zugespitzt.

Wir hatten gerade schon beim Thema Flucht über eine Äußerung von Kardinal Woelki gesprochen. Alle warten darauf, wie die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wegen Meineidverdachts ausgehen. Wie sehen Sie und Ihre Amtsbrüder die Lage in Köln?

Es gab eine Konflikt- und Krisensituation, aber dazu ist eigentlich alles gesagt. Kardinal Woelki ist für mich als Bischof von Limburg unser Nachbar und unser Metropolit. Er hat mir die Bischofsweihe gespendet. Ich bin ihm lange verbunden und schätze vieles an ihm: seine Betonung von Solidarität und sozialer Verantwortung. Sein Engagement für den Klimaschutz. In manchen kirchenpolitischen und dogmatischen Fragen gehen wir unterschiedliche Wege und kommen auch nicht gut überein. So haben wir deutschen Bischöfe ja mit der römischen Seite Verabredungen getroffen, wie es mit dem bisherigen Synodalen Weg weitergeht. Da hätte ich mir schon gewünscht, dass es ihm möglich gewesen wäre, im nun eingerichteten Synodalen Ausschuss mitzuwirken. Aber es ist seine persönliche Entscheidung, was er meint, theologisch verantworten zu können.

Vor anderthalb Jahren haben Sie ihn zwar gegen die Meineidvorwürfe in Schutz genommen, aber gesagt, die Menschen vertrauten ihm nicht mehr und träten auch in anderen Diözesen seinetwegen aus. Sehen Sie das heute noch so?

Es ist ruhiger geworden. Das heißt nicht, dass alle Fragen geklärt sind.

Haben Sie beide mal darüber gesprochen?

Es gab einen Austausch, mit allen Chancen und Grenzen.

Andererseits, bei den aktuellen Austrittszahlen liegt zum Beispiel Limburg sogar etwas schlechter als Köln im Verhältnis zur Größe. Liegt so etwas überhaupt am Bischof oder vielleicht eher an der großstädtischen Struktur – mit Köln und Düsseldorf oder bei Ihnen mit Frankfurt?

Der Einfluss von Bischöfen ist sehr relativ, aber bestimmte Krisen und Skandale motivieren Menschen, eine schon länger erwogene Austrittsentscheidung zu treffen. Übrigens wissen viele nicht, in welcher Diözese sie überhaupt leben. Wenn irgendwo ein katholischer Bischof etwas tut, was Proteste auslöst, treten auch andernorts Meschen aus – sogar aus der evangelischen Kirche. Und umgekehrt. Ich habe diese Erfahrung selbst gemacht mit meiner sehr dezidierten Position zur AfD.

Sie hatten am Anfang auf den Vertrauensverlust hingewiesen, der durch sexualisierte Gewalt im Raum der Kirchen und den Umgang damit entstanden ist. Hat die katholische Kirche jetzt einen Weg gefunden, Vertrauen zurückzugewinnen?

Ich tue mich immer schwer mit der Forderung, Glaubwürdigkeit zurückgewinnen. Es gab Verbrechen, und es gab einen unsäglichen Umgang mit den davon Betroffenen. Das müssen wir einsehen, daraus müssen wir Konsequenzen ziehen, um den Raum der Kirche für Kinder und junge Menschen sicher zu machen. Wir müssen das von den Betroffenen Erlebte ernst nehmen und dafür sorgen, dass Täter bestraft werden, anstatt sie zu schützen und Opfer zu marginalisieren. Diese Umkehr ist eine erhebliche Aufgabe. Der stellen wir uns aus Überzeugung und Notwendigkeit. Vertrauen können wir nur neu aufbauen, wenn Menschen uns Vertrauen schenken. Und darüber entscheiden sie selbst. Das ist noch ein langer Weg, und allen, die meinen, jetzt sei es aber gut mit dem Thema Aufarbeitung, Intervention, Prävention, denen sage ich: Es ist lange noch nicht gut. Wir müssen weitermachen.

Aber es musste erst ein Gerichtsurteil her – möglich gemacht durch Kardinal Woelki, der bei einem Prozess auf die Einrede der Verjährung verzichtete -, damit sich Entschädigungssummen in der Größenordnung von 300.000 Euro ergaben. Das hat das Vertrauen von Betroffenen auch nicht gerade gestärkt, oder?

In der Tat, das war eine Gerichtsentscheidung. Viele Betroffenen können den Weg vor Gericht aber gar nicht gehen, weil die Beweismittel fehlen, obwohl ihre Darstellungen plausibel sind. Deshalb hatten wir ja den Weg einer Anerkennung des Leides gewählt. Anerkennung wohlgemerkt, denn wiedergutmachen kann man das Leid nicht. Wir haben nach vielen Expertengesprächen dafür drei Grundsätze festgelegt. Es ist ein einheitliches System für alle Bistümer, Orden und die Caritas. Es bringt die Betroffenen nicht in die Beweislast, Plausibilität genügt. Und: Wir können nicht aus der Gesellschaft ausscheren, sondern orientieren uns an gerichtlich festgelegten Schmerzensgeldzahlungen. In der Tat hat das erwähnte Urteil da Bewegung gebracht, die Beträge steigen. Bis 2023 haben wir 54 Millionen an Anerkennungsleistungen ausgezahlt, einschließlich 2024 werden es wohl insgesamt 70 Millionen sein. Eines darf ich festhalten: Wir sind die Institution, die bei diesem Thema vorangegangen ist. Inzwischen ist auch die evangelische Kirche dabei, ein System der Anerkennung zu schaffen. Und wir haben immer gesagt, wenn es ein gesamtstaatliches System dafür gibt, dann sind wir dabei – aber wir können und wollen im Interesse der Betroffenen nicht darauf warten.