Franziskus brach mit Traditionen, lebte bescheiden, förderte Reformdiskussionen und erregte Kontroversen durch mutige Entscheidungen im Pontifikat.
Nachruf auf FranziskusWie der Papst „vom Ende der Welt“ zum Reformator wurde

20.11.2024, Vatikan, Vatikanstadt: Papst Franziskus winkt, als er zu seiner wöchentlichen Generalaudienz auf dem Petersplatz im Vatikan ankommt.
Copyright: dpa
Santa Maria Maggiore also. Dort, in seiner Lieblingsbasilika nahe dem Bahnhof Roma Termini, wird der verstorbene Papst Franziskus auf eigenen Wunsch beigesetzt werden. Dorthin hatte ihn bereits einer seiner ersten Wege als Papst geführt. Noch mit der Entscheidung über diese letzte Station zeigte Jorge Mario Bergoglio: Er macht es anders als viele, wenn auch nicht alle seiner Vorgänger. Seit 1878, seit fast anderthalb Jahrhunderten also, ist es nicht mehr vorgekommen, dass sich ein Papst außerhalb des Petersdomes bestatten ließ.
Unter den bisher immerhin sechs Päpsten, die Santa Maria Maggiore ihre letzte Ruhe gefunden haben, ist Nikolaus IV. Der lebte im 13. Jahrhundert und war Franziskaner. Das wird dem Jesuitenpater Bergoglio besonders gefallen haben. Hatte er sich doch nach seiner Papstwahl am 13. März 2013 den noch nie dagewesenen Papstnamen Franziskus ausgesucht – nach dem armen mittelalterlichen Prediger und Ordensgründer.
Der Papst „vom Ende der Welt“
Die Namenswahl zu Beginn des Pontifikats, die Wahl der Begräbniskirche zum Abschluss – beides sagt viel über Jorge Mario Bergoglio. Der Papst „vom Ende der Welt“, wie er sich 2013 vorstellte, der erste Lateinamerikaner (und nach dem Syrer Gregor III. aus dem frühen Mittelalter überhaupt erst der zweite Nichteuropäer) auf dem Stuhl Petri, er brach mit vielen Gewohnheiten.
Als Erzbischof von Buenos Aires war am liebsten per Metro unterwegs gewesen, das ging in Rom nicht mehr. Stattdessen wählte er Kleinwagen, trug seine Aktentasche selbst und lief in denkbar schlichtem Schuhwerk durch die Gegend, während Vorgänger Benedikt XVI. durch seine eleganten roten Schuhe aufgefallen war.
Überhaupt das Rot, die eigentliche päpstliche Hausfarbe: Sie bedeutete Franziskus offenkundig wenig. Den roten Schulterumhang, mit dem sich neu gewählte Päpste auf dem Balkon des Petersdoms zu zeigen pflegen, verschmähte Jorge Mario Bergoglio und trat lediglich in weißer Soutane auf. Der Karneval sei vorbei, soll er bemerkt haben – wenn das nicht stimmt, ist es zumindest gut erfunden.

19.02.2025, Vatikan: Kerzen mit dem Konterfei von Papst Franziskus stehen vor der Poliklinik Agostino Gemelli in Rom, wo der Papst seit Freitag, 14. Februar 2025, behandelt wurde.
Copyright: dpa
Den größten Traditionsbruch hatte sich Franziskus allerdings nicht ausgesucht: Er hatte sein Amt zu führen, während der Vorgänger noch lebte. Benedikt XVI. – Joseph Ratzinger – hatte ausgerechnet am Rosenmontag 2013 seinen Rücktritt zum 28. Februar erklärt, entschwand dann zunächst nach Castel Gandolfo und lebte schließlich bis zu seinem Tod am 31. Dezember 2022 in einem kleinen Klostergebäude im Vatikan.
Franziskus besuchte ihn dort, nannte ihn seinen Bruder. 2019 verkitschte Fernando Meirelles in seinem mit drei Oscar-Nominierungen bedachten Film „Die zwei Päpste“ dieses Miteinander zur frommen Idylle. Tatsächlich war es da allerdings schon sehr, sehr schwierig geworden.
Erste Wochen nach der Papst-Wahl: Göttlicher Ausnahmezustand
2013 aber, in den Wochen und Monaten nach der Wahl, herrschte eine Stimmung, die der Vatikan-Journalist Paul Badde als „göttlichen Ausnahmezustand“ pries. Franziskus riss Witze und versicherte seinen brasilianischen Gastgebern beim Weltjugendtag 2013, dass er am liebsten mit jedem von ihnen einen Kaffee trinken würde, aber Achtung, keinen Schnaps.
In Rom lebte er in einer Art Hotel, dem Gästehaus Santa Marta, und nicht etwa im Apostolischen Palast. Das sorgte im Vatikan zwar für Mehraufwand – das Papstappartement im Palast wurde ja weiter für Audienzen gebraucht –, aber Franziskus legte Wert darauf, zum Beispiel im Frühstücksraum anderen Gästen zu begegnen und sich nicht abschotten zu lassen.
Franziskus - ein Papst, der den Leuten nahe sein wollte und demonstrativ mitten im Leben stand. Der dann auch mit seinen Entscheidungen auf konkrete Lebensnöte eingehen wollte: „Amoris laetitia“, das Schreiben von 2016 über die Liebe in der Familie, gipfelte in dem denkwürdigen Satz, man könne nicht mehr behaupten, „dass alle, die in irgendeiner sogenannten ‚irregulären‘ Situation leben, sich in einem Zustand der Todsünde befinden“. In gewissen Fällen könnten solche Menschen – gemeint waren vor allem wieder verheiratete Geschiedene – auch die Sakramente empfangen. 2023 erlaubte er dann auch die Segnung unverheirateter, wiederverheirateter und gleichgeschlechtlicher Paare.
Franziskus zwang Woelki zu Rücktrittsgesuch
Mit solchen Ansagen löste Franziskus Kontroversen aus. Vier Kardinäle, darunter der Kölner Emeritus Joachim Kardinal Meisner, schossen mit öffentlich gemachten „Dubia“, Zweifeln, eine Breitseite gegen den Papst. Dass sie an die Öffentlichkeit gingen, lag freilich auch daran, dass Franziskus ihre zunächst vertraulich vorgebrachte Eingabe keiner Antwort gewürdigt hatte. Auch das übrigens typisch Franziskus: Er scherte sich wenig um Konventionen, zum Beispiel um den Anspruch von Kardinälen, Gehör zu finden.
Der nach außen so locker auftretende Papst führte die katholische Kirche im Bewusstsein seiner absoluten Macht und behandelte Amtsträger, die ihm in die Quere kamen oder die bei ihm Bedenken auslösten, ausgemacht schlecht. Ein prominentes Beispiel ist Meisners Nachfolger Rainer Maria Kardinal Woelki, den Franziskus zur Abfassung eines Rücktrittsgesuchs zwang, was er später per Interview aller Welt mitteilte.
Während Woelki trotz aller Bedenken, die er seinerzeit gegen „Amoris laetitia“ hatte, stets betont loyal blieb, gaben andere dem Papst Anlass zum Durchgreifen. Gerhard Ludwig Kardinal Müller, Präfekt der damaligen Glaubenskongregation, erfuhr 2017 Knall auf Fall, dass seine Bestallung nicht - wie eigentlich turnusgemäß üblich – verlängert würde.
Das hatte Müller sich allerdings selbst zuzuschreiben. „Papst Franziskus ist auch mehr pastoral, und die Glaubenskongregation hat eine Aufgabe, ein Pontifikat theologisch zu strukturieren“, hatte er der katholischen französischen Zeitung „La Croix“ am 29. März 2015 erklärt. Ein unfassbarer Affront: Franziskus’ Pontifikat erschien seinem obersten Glaubenswächter offensichtlich als theologisch mangelhaft.
Gänswein spricht vom doppelten Papstamt
Franziskus – ein Papst, der der Nachhilfe, der Ergänzung bedurfte? Auf den Gipfel trieb ein gewisser Georg Gänswein, gleichzeitig Privatsekretär sowohl von Franziskus als auch von Vorgänger Benedikt, solche Vermutungen, als er 2016 von einem „doppelten Papstamt“ sprach. Mit dem Rücktritt gebe es zwar keine zwei Päpste, „aber de facto ein erweitertes Amt - mit einem aktiven und einem kontemplativen Teilhaber“. Benedikt XVI. habe seinen Stuhl geräumt, doch den Petrusdienst mit seinem Rücktritt nicht verlassen.
Zwar relativierte Gänswein seine Aussagen bald darauf, aber Benedikt selbst war es, der keine Ruhe gab, obwohl er doch mit Hinweis auf seine schwindenden Kräfte zurückgetreten war. Zum Eklat kam es, als Benedikt einen harmlosen Aufsatz für ein Buch von Papst-Kritiker Robert Kardinal Sarah beisteuerte. Ein Buch über den Zölibat, das im Gesamteindruck (trotz des eher harmlosen Beitrags von Benedikt-Ratzinger) nur als scharfe Kritik an Reformüberlegungen von Franziskus gelesen werden konnte – und auf dessen Cover der Verlag Benedikt XVI. als Mitautor firmieren ließ. Gänswein hatte das nicht verhindert. Franziskus verzichtete fortan auf seine Dienste und ließ ihn nach dem Tod von Benedikt lange zappeln, bis er ihn mit dem Amt eines Vatikan-Botschafters im Baltikum abfand.
Kardinal Müller, der nach seiner Ausbootung aus der Glaubenskongregation zum Verschwörungstheoretiker mutierte, zieh Franziskus dann im Streit um die Segnung Homosexueller der „Häresie der Tat“. Ohnehin habe der Papst eine Reihe von Häresien verbreitet, sagte Müller 2023 der erzkonservativen Internetplattform Lifesitenews. Häresien würden eben meist per Pastoral eingeführt und nicht etwa förmlich dokumentiert.
Was genau wollte Papst Franziskus eigentlich?
Müller griff Franziskus also im Kern seines Wirkens an, in seinem pastoralen Bemühen – aber er traf einen wunden Punkt. Ob es um „Amoris laetitia“ geht, um die Segnung Homosexueller oder um die päpstliche Haltung zum Thema Synodalität: Es ist schwer, Franziskus’ Darlegungen auf den Punkt zu bringen.
Was genau wollte der Papst eigentlich? Hatte er jemals vor, die Reformerwartungen zu erfüllen, die er da weckte? Und wo griff er einmal in der Sache, nicht nur gegenüber einzelnen Personen, durch? Hans Zollner, Jesuit wie Franziskus und einer der bekanntesten Experten für die Bekämpfung sexualisierter Gewalt, legte 2023 frustriert über mangelnde römische Compliance sein Amt in der vatikanischen Kinderschutzkommission nieder.
Franziskus sei wie ein Kapitän in einem Ozean voller Eisberge, hat der Vatikan-Experte Marco Politi der Rundschau einmal gesagt. Also kein stur durchgehaltener Kurs, sondern eine wilde Zickzackfahrt stets unter Gefahr des Scheiterns. Dogmatische Festlegungen waren seine Sache nicht. Ihm gehe es nicht um eine generelle kirchenrechtliche Regelung, sondern um angewandte Barmherzigkeit, hieß es in „Amoris laetitia“. Was sollten Amtsträger, die in Katechismusartikeln und kanonischen Normen denken, damit anfangen? Von diesem Papst waren eher Diskussionsanstöße zu erwarten.
Könnte Franziskus' Reformprozess gebremst werden?
Auch auf politischem Gebiet fehlte ihm oft die Lust zur Entschiedenheit. Eine richtig klare Kante hat der Heilige Stuhl gegenüber Diktatoren zwar nie gezeigt, schon aus Rücksicht auf die Lage der Christen in den betroffenen Staaten. Aber Franziskus’ windelweiche Haltung zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ist ein Tiefpunkt der ohnehin wenig glorreichen vatikanischen Ostpolitik. Noch im Februar 2025 empfing Franziskus Nikas Safronow, einen der Hofmaler des russischen Präsidenten Wladimir Putin und seiner Clique, und ließ sich von diesem ein Papst-Porträt verehren.
Nun ist Jorge Mario Bergoglio, der Papst vom Ende der Welt, der Argentinier mit italienischen Wurzeln, der Fußballfan und frühere Fußballspieler, der Jesuitenpater, ehemalige Kardinal und 266. Bischof von Rom, im Alter von 88 Jahren gestorben. Dass er kein besonders kooperativer Patient war, hat Franziskus nie verhehlt. Trotz angeschlagener Gesundheit nahm er Termine war, bis es nicht mehr ging. Fast zwölf Jahre hat sein Pontifikat gedauert, deutlich länger als die acht Jahre von Benedikt. So viele Tabus Franziskus auch gebrochen hat, einen so ungewöhnlichen Schritt wie Benedikts Rücktritt hatte er nie ins Auge gefasst. Das solle besser keine „Mode“ werden, hatte er 2023 gesagt. Nur für den Fall der Amtsunfähigkeit hatte er per Verfügung vorab seinen Amtsverzicht erklärt.
Franziskus – ein Papst, der bis zum Ende keine Ruhe haben wollte und keine Ruhe gab. 135 Kardinäle haben jetzt die Aufgabe, einen Nachfolger zu wählen. Vier Fünftel dieser Wähler hat Franziskus ernannt, davon viele aus dem sogenannten globalen Süden – Asien, Afrika, Lateinamerika –, während die Erzbischöfe von Paris und Berlin derzeit ohne den traditionellen Kardinalstitel auskommen müssen. Blickt man aber auf die Chancen kirchlicher Reformprozesse, dann sind die Afrikaner und Asiaten da nicht gerade treibende Kräfte. Die afrikanischen Bischöfe haben sich sogar herausgenommen, die neue römische Linie bei Homosexualität einfach nicht umzusetzen. Können sie den Reformprozess bremsen? Wohin wird sich diese Kirche bewegen?
Franziskus öffnete Raum für Diskussionen
Es ist gut zu verstehen, warum Leute wie Gänswein und Kardinal Müller das vermeintlich defizitäre Pontifikat von Franziskus so gerne in ihrem Sinne ergänzt, dogmatisch-streng „strukturiert“ hätten. Franziskus hat selten etwas abschließend entschieden. Aber, und das werden seine Kritiker geahnt haben, gerade das Unfertige, das Unabgeschlossene und die fast schon demonstrativ gelassenen Leerstellen in Franziskus’ Einlassungen laden zum Nachdenken über Veränderungen ein. Das ist gefährlich für alle, die solche Veränderungen scheuen.
Franziskus selbst hat da offensichtlich gelegentlich Bedenken bekommen und – beispielsweise mit Interventionen gegen den „synodalen Weg“ in Deutschland – versucht, die Dynamik der Reformdebatte zu begrenzen. Das ändert nichts daran, dass Franziskus einen zuvor unvorstellbar weiten Raum für Diskussionen innerhalb der katholischen Kirche eröffnet hat. Deswegen könnten Historiker sein Pontifikat eines Tages als durchaus folgenreich bewerten.