„Auslöschen, Umerziehen“Wie ernst der Aufruf zur Vernichtung genommen werden muss
„Was muss Russland mit der Ukraine machen?“, ist der Text überschrieben, den die staatliche Nachrichtenagentur Ria Novosti am Sonntag auf ihrer Website veröffentlicht hat. Bislang gut eine Million Leser haben auf den Gastbeitrag des Polittechnologen Timofei Sergeitsev geklickt. Sergeitsev, der unter anderem Wahlkampagnen russischer, früher auch ukrainischer Politiker organisierte, zeichnet darin das Bild einer Ukraine, die vom „Nazismus“ besessen ist. Dieser sei das zentrale Merkmal der ukrainischen Unabhängigkeit, betont er.
Behauptungen werden immer wieder wiederholt
Derartige Zuschreibungen aus Moskau in Bezug auf die Ukraine sind im Grunde nichts Neues: Seit dem Jahr 2014 behauptet der Kreml, in Kiew regierten Nationalisten und Faschisten. Die ukrainische Realität gibt diese Lesart allerdings nicht wieder: Seit 2014 gab es zwei freie Wahlen und einen Machtwechsel: Aktuell regiert mit Wolodymyr Selenskij ein jüdischstämmiger Ukrainer, der einer russischsprachigen Familie im Osten des Landes entstammt. Rechtsradikale Kräfte kamen bei der letzten Wahl auf zwei Prozent der Wählerstimmen.
Diese Widersprüche löst Sergeitsev in seinem Beitrag mit der Erklärung auf, der Nazismus in der Ukraine sei formlos und dadurch allgegenwärtig: Es gebe keine Partei und keine Führung, in der sich der „Nazismus“ klar manifestieren würde. Vielmehr sei die gesamte Gesellschaft derart umfassend vom Nazismus befallen, dass der praktisch überall sei. Westliche Einflüsterer hätten in der Ukraine einen Staat geschaffen, der für „Russland und die Welt“ eine größere Gefahr darstelle als das Dritte Reich.
Sergeitsev: Eine Ukraine darf es nicht mehr geben
Unklar bleibt, was genau Sergeitsev eigentlich mit „Nazismus“ meint. Offenbar bewertet er den Wunsch der Ukrainer nach Unabhängigkeit als eine antirussische Intrige, die den Begriff „Nazismus“ rechtfertigt. Klarer sind seine Vorstellungen zur Zukunft der Ukraine: Einen Staat mit diesem Namen dürfe es künftig nicht mehr geben, schreibt er.
Die „Entnazifizierung“ der Ukraine, die auch Putin als Kriegsziel ausgegeben hatte, müsse einhergehen mit einer „De-Ukrainisierung“ des Landes. Die Eliten der Ukraine und alle, die das Land verteidigten, müssten eliminiert werden. Wer durch aktive oder passive Handlungen das Bestehen der Ukraine begünstigt habe, solle Zwangsarbeit leisten. Der Rest der Gesellschaft müsse für mindestens eine Generation umerzogen und so zu seinen russischen Wurzeln zurückgeführt werden.
Medwedew stimmt auf längeren Krieg ein
Die Veröffentlichung von Sergeitsevs Ideen fallen zusammen mit Aussagen des zwischenzeitlichen russischen Präsidenten Dimitrij Medwedew, der seine Landsleute auf einen längeren Krieg einstimmte und für die Ukraine ein Kriegsende ähnlich dem des „Dritten Reiches“ ins Spiel brachte. „Das ist der Weg für so eine Ukraine“, schrieb Medwedew auf seinem Telegram-Kanal.
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Der Politikwissenschaftler Volker Weichsel von der Zeitschrift Osteuropa wertet diese Äußerungen als Hinweis auf eine Spaltung in der obersten Führung Russlands. Das Scheitern des Plans, die Ukraine durch Einnahme Kiews in kurzer Zeit zu unterwerfen und die hohen Verluste in den eigenen Reihen, habe in Teilen des Militärs zu eher pragmatischen Zielsetzungen, bei den Ideologen hingegen zu einer Radikalisierung geführt. Offensichtlich werde aus deren Reihen nun – mit Rückendeckung des Kreml, so Weichsel – die Debatte verschärft: „Dieser Text ist nichts anderes als die Ankündigung eines Völkermords.“ Er markiere laut Weichsel den Schlusspunkt einer über 20 Jahre andauernden Zuspitzung der Rhetorik. Vorstellungen, die einst in dunklen Ecken des Internets geäußert wurden, fänden sich heute mit Unterstützung des Kreml auf dem Portal der staatlichen Nachrichtenagentur. Gleichzeitig müsse, so Weichsel, der Text auch im Zusammenhang mit den mutmaßlichen Kriegsverbrechen in Butscha und weiteren Orten im Kiewer Umland gesehen werden: „Der Text enthält auch eine Rechtfertigung dessen, was bereits geschehen ist“.
Ideologischen „Eurasien“-Begriff ins Spiel gebracht
Relevanz besitzen die Aussagen Medwedews und des Ria-Textes unterdessen auch über die Ukraine hinaus. So erklärt Medwedew, ein Ende der Ukraine könne den Weg für ein „offenes Eurasien von Lissabon bis Wladiwostok“ öffnen. In Russland ist der „Eurasien“-Begriff ideologisch aufgeladen und steht für ein Europa unter russischer Hegemonie, dass von westlicher „Dekadenz“ befreit ist.
Eine ähnliche Vorstellung kommt auch im Ria-Beitrag zum Ausdruck: Dort erhebt Timofei Sergeitsev Russland zur letzten Instanz, die die Werte des historischen Europas verteidige. Dieses Europa habe sich zivilisatorisch „degradiert“ und es aufgegeben, für sich selbst zu kämpfen. Russland, so Sergeitsev, müsse nun seinen eigenen Weg gehen und seine europäischen Illusionen aufgeben. Nur so könne auch die Ukraine denazifiziert werden.