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Interview

100 Jahre Friedrich-Ebert-Stiftung
Appell von Martin Schulz: Demokratie braucht Demokraten!

Lesezeit 7 Minuten
martin schulz

Martin Schulz, Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung

Die Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn wird 100 – Ein Blick in die Geschichte der Sozialdemokratie mit Martin Schulz.

In 56 Kilometern Akten schlummert die traditionsreiche Geschichte der Sozialdemokratie. Aufbewahrt, gehegt und gepflegt werden sie in der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn, die in diesen Tagen ihr 100-jähriges Bestehen feiert. Deren Vorsitzender Martin Schulz blickt im Gespräch mit Jutta Laege auf Gründung, Erbe und Arbeit der Stiftung in politisch herausfordernden Zeiten.

Friedrich Ebert, dem ersten demokratisch gewählten Reichspräsident der Weimarer Republik, werden diese Worte zugeschrieben: Demokratie braucht Demokraten. Wie sieht es mit seinem Vermächtnis heute, 100 Jahre später, aus?

Trotz der massiven Zugewinne der Demokratieverachter bei den jüngsten Bundestagswahlen: Der Zustand unserer Demokratie in Deutschland ist immer noch gut. Die große Mehrheit der Menschen heute ist weiter für die Demokratie und auch bereit, sie zu verteidigen. Das ist übrigens der Unterschied zwischen der Bundesrepublik und der Weimarer Republik. Die Weimarer Republik hat nie solche Mehrheiten von Menschen gehabt, die sich mit der Republik und der Demokratie identifizierten. Wahr ist aber auch: Es gibt einen zunehmenden Anteil von Leuten, die diese Demokratie abschaffen wollen, die sich ein autoritäres System wünschen. Und da ist ein noch alarmierender Befund: Der Anteil der Leute, die die Funktionsfähigkeit der demokratischen Institutionen in Zweifel ziehen, hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Die Gegenläufigkeit von immer mehr Digitalisierungsprozessen, die die Kommunikation deutlich beschleunigen, und unserem demokratischen System, das Zeit dafür braucht, Interessen zu hören, auszuhandeln und möglichst viele Menschen mitzunehmen, stellt ein ernstes Problem für die Akzeptanz demokratischer Prozesse dar. Wir werden unser demokratisches System hier verbessern müssen.

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Was denken Sie, würde Friedrich Ebert uns heute raten?

Dass die Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger, denen für begrenzte Zeit die Macht übertragen worden ist, sich auf keinen Fall von den Menschen abkoppeln dürfen. Ich glaube, Ebert würde uns heute raten: Ihr müsst bei und mitten unter den Leuten sein!

In der Geschichte der Sozialdemokratie, deren Archiv hier in der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn liegt, waren die Jahre 1933-1945 dunkle Jahre, in denen Sozialdemokraten von den Nationalsozialisten verfolgt wurden und teilweise nur im Exil arbeiten konnten. Ist die Bundesrepublik heute besser geschützt?

(überlegt lange) Sie merken an meinem Zögern: Jede Zeit hat ihre besonderen Bedingungen. Gewalt findet heute subtiler statt. Die Vernichtung ziviler Existenzen im Netz ist eine der großen Gefahren, mit Fake News und künstlicher Intelligenz kann man Menschen ruinieren. Die Gefahr kommt also heute in einem anderen Gewand daher.

Ich verstehe, wenn Menschen wütend werden, wenn sie trotz harter Arbeit kein auskömmliches Leben haben, aber andere immer reicher und reicher werden.
Martin Schulz, Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung

Und das Tempo ist beängstigend.

Ja. Ein bisschen haben sich die Demokratien, insbesondere in Europa, über viele Jahre darin gefallen, zu glauben, unsere Demokratie sei für alle Zeiten in Stein gemeißelt. Das unterschätzt den dynamischen Charakter des Destruktiven und den Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Not und der Empfänglichkeit für autoritäre Lösungen. Eine der Ursachen für die Demokratie-Erosion ist die ungerechte Verteilung der Güter. Ich verstehe, wenn Menschen wütend werden, wenn sie trotz harter Arbeit kein auskömmliches Leben haben, aber andere immer reicher und reicher werden. Dadurch geht gesellschaftlicher Zusammenhalt verloren. Kluge Politik arbeitet aktiv dagegen an.

Was war aus Ihrer Sicht ein Meilenstein in der jetzt 100-jährigen Geschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung?

Die Stiftung begann ja mit der finanziellen Förderung von Kindern aus der Arbeiterklasse, um ihnen ein Studium zu ermöglichen. Mittlerweile gehören zu unserem Stiftungszweck auch die politische Bildung zur Stärkung der Sozialen Demokratie, die Förderung von Wissenschaft und Forschung sowie die internationale Zusammenarbeit im Sinne der Völkerverständigung. Und hier gibt es ein ganz herausragendes Beispiel unserer Arbeit: Die heutige Sozialistische Partei Portugals, die das Land nach der Revolution von 1974 über Jahrzehnte hinweg regiert und die Demokratie im Land konsolidiert hat, ist im Exil in einer Bildungsstätte der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bad Münstereifel 1973 gegründet worden. Daraus ist eine Erfolgsgeschichte auf der iberischen Halbinsel geworden.

Wie steht es um die weltweite Bedeutung der Stiftung, die ja auch in Krisengebieten aktiv ist?

Die Ebert-Stiftung genießt als Netzwerk für progressive Kräfte weltweit einen sehr guten Ruf. Allerdings: Die Demokratie steht ja weltweit unter Druck. Es gibt immer mehr autoritäre Regime, immer mehr Repression gegen zivilgesellschaftliche Organisationen. In Afrika zum Beispiel hat der Anteil an Staaten, in denen das Militär geputscht hat, wieder zugenommen. In Nicaragua hat Präsident Ortega, der früher eine Befreiungsbewegung angeführt hat, heute eine Diktatur errichtet, die derjenigen ähnelt, die er damals beseitigte. All dies macht uns die Arbeit in einigen Ländern schwer bis unmöglich.

Apropos autoritäre Regime. Haben Sie überhaupt noch eine Dependance in Moskau?

In Moskau nicht mehr. Wir haben unser Büro dort schließen müssen. Politische Stiftungen werden in Russland jetzt als „ausländische Agenten“ geführt – damit sind unsere Leute de facto ausgewiesen.

Was macht das mit Ihnen und Ihren Mitarbeitern? Ist man dann doppelt motiviert oder sagt man, es hat ja alles keinen Zweck mehr?

Leute, die in der internationalen Politik arbeiten, sind allermeist Realisten. Man darf sich nie der Illusion hingeben, als sei das Wahre, Gute und Schöne garantiert. Das Gegenteil ist der Fall. Ich habe als Politiker in all den Jahren gelernt: Wenn ich morgens aufstehe, muss ich immer davon ausgehen, dass alles möglich ist, gut wie schlecht und nicht vorhersehbar. Es wird immer schwieriger, in dieser komplexen und interdependenten Welt Antworten zu erarbeiten. Wenn ein Problem aufploppt, erwarten viele Leute in den sozialen Medien, dass die Lösung am besten schon gestern gefunden worden ist. Das übt auf die Politik immensen Druck aus, der zu Atemlosigkeit führt, die in der internationalen Politik eigentlich vermieden werden sollte. Es braucht stattdessen Beständigkeit, lange Linien und Berechenbarkeit. Auch dafür stehen wir in der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Sie haben 2017 beim SPD-Parteitag als deren Parteivorsitzender gesagt, Ihre Vision sei, dass es 2025 die Vereinigten Staaten von Europa gebe. Davon sind wir heute wahrscheinlich weiter entfernt als 2017.

Würden sie mal existieren! Dann wäre für Europa deutlich leichter, sein Demokratiemodell gegen autoritäre Imperialisten zu verteidigen. Vereinigte europäische Handelspolitik, Verteidigungspolitik, Umweltpolitik und Gesundheitspolitik – dann könnte man Trump sagen: Gut, Sie können aus der WHO austreten, wir machen weiter! Sie können aus dem Klimaabkommen austreten. Wir machen weiter! Gleiches gilt für den angedrohten Handelskrieg. Stattdessen erleben wir eine Renationalisierungseuphorie. Wenn Europa heute als eine starke Identität auftreten würde, ohne aufgelöste Nationalstaaten, aber mit der Übertragung der Kompetenzen, die man in der Gemeinschaft braucht, dann wären wir heute stärker und könnten mit einer Stimme einem Trump oder Putin begegnen. Die Idee eines vereinigten Europas hat auch mit der Geschichte der Sozialdemokratie zu Eberts Zeiten zu tun. Die SPD hat 1925 kurz nach dem Tod Friedrich Eberts das Heidelberger Programm verabschiedet und darin die Vereinigten Staaten von Europa gefordert. Die Delegierten dieses Parteitags waren Menschen des Ersten Weltkriegs. Diese Leute hatten den Schrecken von Verdun in den Knochen. Sie wollten ein befriedetes Europa.

Wenn Europa heute als eine starke Identität auftreten würde (...) dann wären wir heute stärker und könnten mit einer Stimme einem Trump oder Putin begegnen.
Martin Schulz, Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung

Braucht es demzufolge erst die Katastrophe, damit wir uns wieder auf diese Gemeinschaftsidee besinnen?

Ein Krieg zwischen Mitgliedern der Europäischen Union ist nicht mehr denkbar, zumindest aus heutiger Sicht, solange die Schrecken der Vergangenheit nicht vergessen werden. Und das ist eine wirklich gute Nachricht. Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat in ihrer 100-jährigen Geschichte zehntausende junge Menschen durch Studienstipendien gefördert. Gibt es bedeutende Persönlichkeiten, die daraus hervorgegangen sind? Ja, jede Menge! Der heutige SPD-Co-Vorsitzende Lars Klingbeil ist ein Stipendiat. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auch. Und Altkanzler Helmut Schmidt war sogar einer der Ersten. Es gibt aber auch viele Persönlichkeiten außerhalb der Politik, beispielsweise in Wissenschaft und Kultur.

Schauen wir mal in die Zukunft. Wie abhängig ist der Fortbestand der Friedrich-Ebert-Stiftung von der SPD und deren Erfolg oder – wie gerade in der abgelaufenen Bundestagswahl – Misserfolg?

Bundestagswahlergebnisse bedingen über einen längeren Zeitraum hinweg jeweils die staatliche Finanzierung der zugehörigen politischen Stiftung. Wir bereiten uns immer auf unterschiedliche Szenarien vor, aber wir sind eine große Stiftung und in der Lage, Schwankungen bei Wahlen abzufedern. Insgesamt gilt: Unsere heutige Demokratie in Deutschland und in Europa gründet auf der historischen Tatsache, dass Demokratien von radikalen Antidemokraten vernichtet werden können. Demokratische politische Stiftungen leisten durch ihre vielfältige Bildungs- und Netzwerkarbeit einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung unserer liberalen Demokratie.