Post-Vac-SyndromAuch die Corona-Impfung kann sehr selten zu Long Covid führen
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Marburg – Dass es nach einer SARS-CoV-Infektion oft zum berüchtigten Long-Covid-Syndrom kommt, ist schon länger bekannt. Doch offenbar kann das auch nach einer Impfung passieren. Im Januar dieses Jahres wurde in der Kardiologie des Uniklinikums Gießen und Marburg (UKGM) eine fächerübergreifende Spezial-Ambulanz für Patienten eingerichtet, die glauben, am „Post-Vac-Syndrom“ zu leiden. Wir sprachen darüber mit Prof. Bernhard Schieffer, dem Direktor der Kardiologie am UKGM.
Herr Prof. Schieffer, Sie haben eine Sprechstunde für Patienten eingerichtet, die über Long-Covid-Symptome infolge einer Corona-Impfung klagen. Haben Sie viel zu tun?
Das kann man wohl sagen. Wir haben derzeit knapp 2000 Patienten, die auf einen Termin bei uns warten. Obwohl wir fleißig versuchen, alle Anfragen zügig abzuarbeiten.
Das ist viel. Ein Impfskeptiker könnte jetzt glattweg sagen: „Siehste, das Zeug ist Gift.“ Und er hätte dann nicht mal so Unrecht, oder?
Doch. Das ist und bleibt medizinischer Unfug und ist grob fahrlässig. Das Risiko für Long-Covid im Anschluss an eine durchlaufende SARS-CoV-Infektion liegt, je nachdem, welches Land und welches Patientenalter wir betrachten, bei bis zu 35 Prozent. Da kommt das Post-Vac-Syndrom, wie man Long-Covid nach einer Impfung nennt, nicht einmal annährend mit. Hier liegt das Risiko bei 0,02 bis 0,2 Prozent aller Impfungen.
Aber woher kommt dann die hohe Zahl bei Ihnen in Marburg?
Da gibt es vor allem zwei Gründe. Erstens gibt es sonst praktisch keine Anlaufstellen für Long-Covid-Patienten nach einer Impfung. Sie sind politisch bisher nicht gewollt, was sicherlich auch aus der Befürchtung resultiert, dass man Wasser auf die Mühlen der Impfgegner gießt, wenn man dieses Problem thematisiert. Nichtsdestoweniger fände ich diese Thematisierung schon wichtig, weil man mit der Gesundheit von vermutlich einigen tausend Menschen spielt, wenn man es nicht tut. Der zweite Grund für den großen Run auf unsere Sprechstunde besteht darin, dass viele derjenigen, die dorthin kommen, bereits andere ernsthafte Gesundheitsprobleme haben bzw. hatten.
Womit wir bei den Risikogruppen sind. Wer ist in besonderem Maße vom Post-Vac-Syndrom gefährdet?
Es sieht im Moment so aus, als wären das vor allem junge Frauen mit bestimmten Vorerkrankungen. Sie stellen rund 75 Prozent derjenigen, die sich an unsere Sprechstunde wenden.
Bisher waren es ja eher die jungen Männer, die zu den Risikogruppen bei Corona-Impfungen genannt wurden. Warum jetzt die Frauen?
Das wissen wir noch nicht. Wie wir überhaupt nur wenig über diejenigen wissen, die das Long-Covid-Syndrom in der Folge einer Impfung bekommen. Das Problem ist neu, und die Untersuchungen zu seiner Erklärung laufen noch.
Worin bestehen denn generell die Unterschiede zwischen dem Long Covid nach einer Impfung und dem Long Covid nach einer Infektion?
Da ist vor allem der Schweregrad in der Symptomatik. Er ist nach einer Impfung meistens geringer. Aber deswegen sind natürlich die Symptome trotzdem da.
Und was sind das für welche?
Da wären die Dysästhesien. Also Änderungen in der Schmerzwahrnehmung, bis hin zu heftigsten Schmerzen, die durch einen eigentlich harmlosen Reiz auftreten können. Außerdem klagen die Patienten immer wieder über den „Nebel“ in ihrem Kopf und migräneartige Kopfschmerzen. Nicht zu vergessen die Herzmuskelentzündungen, die nach einem schlecht verheilten Virusinfekt auftreten können. Nicht umsonst haben wir die Sprechstunde bei uns in der Kardiologie eingerichtet.
In jedem Falle gilt: Diese Menschen, die in unsere Sprechstunde kommen, sind wirklich krank. Und allein die Tatsache, dass wir den Krankheitswert ihrer Symptome anerkennen, verschafft ihnen oft schon Erleichterung. Viele von ihnen haben eine Ärzte-Odyssee von neun Monaten oder mehr hinter sich, bevor sie den Weg in unsere Ambulanz finden.
Wann tauchen diese Symptome nach der Impfung auf? Binnen weniger Tage, oder erst nach Wochen?
Es gibt Patienten, die haben das sofort. Und es gibt welche, die erst die üblichen Beschwerden nach einer Impfung haben, wie etwa Fieber und Abgeschlagenheit, und danach gehen sie Wochen später in die Long-Covid-Symptomatik. Die Mehrzahl aber hat diese Beschwerden und danach für einige Wochen nichts, es geht ihnen also wieder relativ gut – und plötzlich kommt Long Covid. Das spricht dafür, dass dort die Auseinandersetzung mit dem Antigen der Impfung nicht richtig funktioniert.
Und das könnte ja wiederum an den von Ihnen bereits erwähnten Vorerkrankungen liegen, unter denen die Betroffenen oft leiden…
Genau daran liegt es in der Regel.
Und um welche Erkrankungen handelt es sich da?
Das sind Erkrankungen, die zur Bildung von Autoantikörpern führen, also zu einer Autoimmunstörung, bei der sich die Immunabwehr gegen körpereigenes Gewebe richtet. Das kann durch eine Infektion passieren, aber auch durch einen Stoffwechseldefekt oder eine schwere Allergie. Sie alle können eine Autoimmunreaktion initiieren, die dafür sorgt, dass der Körper nicht so mit der Impfung fertig wird, wie man das erwartet hätte.
Ist das Long-Covid-Risiko für alle Impfstoffe gleich?
Ja. Denn es hat ja nichts mit dem Vehikel zu tun, auf dem das Antigen dem Körper präsentiert wird.
Kommen wir zur Therapie. Da hört man von der Blutwäsche, der so genannten Plasma-Apherese…
Ja, wenn die Patienten einen hohen Autoantikörper-Spiegel haben, kann prinzipiell eine Plasma-Apherese erfolgen, bei der die Autoantikörper aus dem Blut entfernt werden. Doch sie funktioniert manchmal nur für drei Wochen, und manchmal auch gar nicht. Denn letzten Endes wissen wir nicht, was für eine Bedeutung die Autoimmunkörper für die Symptomatik haben. Wir wissen, dass sie im Zusammenhang mit dem Post-Vac-Syndrom auftauchen, aber nicht, inwieweit sie auch für dessen Symptome verantwortlich sind. Es gibt keinen Test, der einen Beleg dafür liefern kann. Sie dürfen ja auch nicht vergessen, dass solch eine Blutwäsche teuer ist und über 10.000 Euro kosten kann. Dann sollte ihr positiver Ausgang schon sicherer sein…
Was unternehmen Sie denn in ihrer Ambulanz in Marburg?
Wir arbeiten die Patienten systematisch auf. Und das kann dauern, allein die Erstvorstellung bei uns kann ein bis anderthalb Stunden dauern. Dabei versuchen wir möglichst das komplette Umfeld des Patienten zu erfassen, von der Umwelttoxikologie über die Immunologie bis zur Soziologie.
Aha. Und dabei kommt etwas heraus?
Ja. Und das ist mitunter eine faustdicke Überraschung, vor allem für die Patienten selbst. Beispielsweise, wenn sich herausstellt, dass eine Zöliakie oder Glutensensitivität vorliegt, von der bis dahin nichts bekannt war. Oder sich aber der Patient – wiederum, ohne es zu ahnen – über seine Hauskatze eine Toxoplasmose eingefangen hat. Und wenn wir dann die Unverträglichkeit oder die Infektion behandeln, verschwindet in der Regel auch das Post-Vac-Syndrom wieder.
Weil diese Erkrankungen das Immunsystem so beschäftigen, dass es mit der Impfung nicht fertig werden kann?
Ja, so kann man vereinfacht sagen. Es wird gerne übersehen, dass die Impfung immunologisch schon einen erheblichen Reiz darstellt. Für einen Organismus, der bereits mit einer heftigen Autoimmunproblematik beschäftigt ist, kann das am Ende zu viel sein.
Das müsste man aber dann doch auch künftig bei den Impfaktionen mehr berücksichtigen, oder?
Ja, und darin besteht auch unser besonderes Anliegen. Wenn der Herbst kommt, sollten wir Impfstoffe haben, in denen das Problem der autoimmunen Vorbelastung berücksichtigt ist. Und wir sollten wachsamer sein für die Frage, welche Personen wegen ihrer Vorerkrankung ein besonderes Long-Covid-Risiko infolge der Impfung haben könnten. Das wird in meinen Augen bisher zu wenig berücksichtigt.