Ulla Hahn wird 75 Jahre„Schreiben ist geistiges Händewaschen“
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Die Überraschung war groß, als Ulla Hahn, eine der wichtigsten Lyrikerinnen unserer Zeit, vor knapp 20 Jahren ihren ersten Roman vorstellte: „Das verborgene Wort“ – über ihre Kindheit in Monheim.
Mit der Autorin, die an diesem Donnerstag 75 Jahre alt wird, sprach Lothar Schröder.
Vor fast 20 Jahren erschien Ihr erster, autobiografisch gefärbter Roman, „Das verborgene Wort“. Können Sie sich noch an den ersten Satz erinnern?
Das ist ja einfach. Der erste und übrigens auch der letzte Satz des Buches lautet: „Lommer jonn.“
Diese Aufforderung des Großvaters kann man in Corona-Zeiten niemandem empfehlen, oder?
Doch, aber mit Maske bitte! Und zu Hause kann man in wunderschönen Büchern wunderschöne Reisen machen: im Kopf!
Was würde der Opa heute raten?
Et hätt noch immer jot jejange.
Ist das auch ein Lebensmotto von Ihnen oder vielleicht eine positive Antwort auf unsere Gegenwart?
Unbedingt. Aber wir sind auch vorsichtig. Mein Mann und ich zählen ja beide zur sogenannten Risikogruppe. Wobei ich Menschenansammlungen noch nie bevorzugt habe. Also, wir passen auf und finden die Maßnahmen auch richtig.
Wie sieht Ihr Tag momentan aus?
Nach wie vor mache ich jeden Morgen meine Joggingrunde. Ansonsten haben wir es ziemlich gut und werden jeden Samstag von einem Biomarkt gleich in der Nähe mit den herrlichsten Dingen versorgt. Und die werden dann auch verantwortlich sein für meine nächste Kleidergröße.
Das glaube ich Ihnen nicht.
Doch, wirklich. Sie glauben ja gar nicht, wie wenig man geht, wenn man keine Besorgungen mehr macht. Und die machen wir aktuell ja nicht mehr. Aber klar, es gibt Menschen, die haben jetzt ganz andere, existenzielle Sorgen. Da kann ich überhaupt nicht klagen, auch wenn ich plötzlich, quasi von heute auf morgen, einer Risikogruppe zugeordnet werde. Was mich als Schriftstellerin aber wirklich bedrückt ist, dass viele Leute auch in dieser Zeit nur noch Netflix schauen oder streamen. Die Kulturtechnik des Lesens wird verdrängt von der sehr viel müheloseren Form, sich Geschichten vor allem über Bilder anzueignen.
Können Sie sich noch ans Motto erinnern, dass Sie Ihrem Debütroman voranstellten? Ein uraltes, von einer Tafel aus Mesopotamien: „Mit Schreiben und Lesen fängt eigentlich das Leben an.“
Und das ist immer noch richtig. Für mich auf jeden Fall. Was wäre ohne meine Liebe zu den Buchstaben aus mir geworden?
Setzen Sie sich mit der Gegenwart jetzt auch schreibend auseinander?
Das tue ich sowieso, weil ich Tagebuch schreibe. Schreiben heißt: sich befreien. Letzten Endes ist Schreiben auch in diesen Tagen so etwas wie ein geistiges und emotionales Händewaschen. Und das kann ich jedem nur empfehlen. Es ist etwas vollkommen anderes, etwas niederzuschreiben als nur darüber zu reden. Und beim Tagebuchschreiben soll man bloß nicht darüber nachdenken, ob man nun die richtigen Worte wählt. Einfach schreiben. Wir haben ja im Deutschen die sehr schöne Formulierung: sich etwas von der Seele schreiben. Darum waren für mich die vier autobiografisch gefärbten Bände auch so wichtig: Den Ballast der Vergangenheit in Proviant umwandeln, nenne ich das. Jetzt hat die Gegenwart den Vorrang.
War Ihr erster Roman für Sie ein Neuanfang im doppelten Sinne? Zum einen geht es darin um den Wunsch nach Aufbruch Ihrer Heldin Hilla Palm; zum anderen war es auch für Sie ein Aufbruch: Die bekannte Lyrikerin Ulla Hahn widmet sich der Prosa. War dazu auch Mut nötig?
Nein, ich habe in meinem Leben immer alles, was wichtig war, einfach gemacht. Ohne darüber nachzudenken warum und wofür und für wen usw. Schreiben als Selbstgespräch. „Das verborgene Wort“ ist ja entstanden aus einer einzigen Geschichte. Ich bin damals von einer ostdeutschen Frauenzeitschrift gefragt worden, ob ich eine Weihnachtsgeschichte für sie schreiben könnte.
Das habe ich gemacht, stark autobiografisch. Damals habe ich zum ersten Mal gemerkt, was mir das bedeutet. Es hat dann noch eine Weile gebraucht, bis sich immer mehr Geschichten einstellten, und dann habe ich einfach angefangen.
Aber ich habe den Eindruck, dass Sie sich Ihre Kindheit und Jugend nicht nur von der Seele geschrieben haben, sondern dass Sie sich mit Ihren Büchern auch wieder eine neue Nähe zu Monheim und dem Rheinland erschrieben haben.
Unbedingt. Ich war viele Jahre ja so weit weg von Monheim. Aber indem ich mir auch die bösen Dinge von der Seele geschrieben habe, konnte ich mich auch wieder meiner Heimatstadt nähern. Ich habe dann aus dem Roman auch in Monheim vorgelesen. Dazu hatte man extra ein wunderschönes Spiegelzelt errichtet, und es war rappelvoll. Hinterher hat mir der Bürgermeister dann verraten, dass man vor dem Zelt zehn Polizisten in Zivil postiert hatte, weil man mit Demonstrationen gegen die vermeintliche Nestbeschmutzerin gerechnet hatte. Aber die Leute haben dann gesehen und gehört, dass ich gar nicht so schlimm bin.
Wie verbringen Sie denn Ihren 75. Geburtstag am Donnerstag?
Ach, wir hatten eine kleine Bötchenfahrt geplant, einmal die Alster rauf und runter. Jetzt machen wir natürlich gar nix. Wir sind ja in eiserner Klausur. Wir machen also ein Fläschchen auf und stoßen dann auf die nächsten zehn Jahre an. Aber das wird alles nachgeholt – auch in Monheim.
Zur Person Ulla Hahn
Die Schriftstellerin Ulla Hahn wird an diesem Donnerstag 75 Jahre alt. Sie gilt als eine der bedeutendsten Lyrikerinnen deutscher Sprache der Gegenwart. Der 1981 erschienene Lyrikband „Herz über Kopf“ wurde sofort zum Bestseller. Hahn, die mit dem früheren Hamburger Ersten Bürgermeister Klaus von Dohnanyi verheiratet ist, wurde im westfälischen Brachthausen (heute Kirchhundem) geboren und wuchs mit ihrem Bruder in Monheim auf. Nach dem Realschulabschluss und einer Ausbildung zur Bürokauffrau holte sie 1964 ihr Abitur nach. Anschließend studierte sie Germanistik, Soziologie und Geschichte in Köln. (kna)