Das "Zentrum für verfolgte Künste in Solingen" erinnert mit Liedern, Texten und Bildern an den Brandanschlag vor 30 Jahren.
Solingen '93Gegen das Vergessen
Der Betrachter ist gleich bei Mevlüde und Durmus Genç. Man erfährt im Zeitstrahl-Text über ihren Herkunftsort Mercimek während der 1940er Jahre in der türkischen Provinz Amasya. Daneben hängt ein verschwommenes Familienfoto aus den 1970er Jahren in Deutschland. Dazu das Zitat: „Was war meine Liebe groß, als ich endlich meine sieben Kinder unter einem Dach hatte.“
Emotionaler Zugang
Man schluckt: Mevlüde wird zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte durch den Brandanschlag von Solingen am 29. Mai 1993 verlieren. Sehr persönlich und emotional ist der Zugang der Ausstellung „Solingen ’93 – Unutturmayacağız! Niemals vergessen!“
Mit einer Mischung aus Texten, Liedern und Videointerviews, in denen Überlebende des Mordanschlags sprechen, zeichnet das „Zentrum für verfolgte Künste“ ein historisches Bild, in dem die Erinnerungskultur ungewöhnlich lebendig wird. Wie in einem Hologramm zeigt die mexikanische Künstlerin Sandra de Pilar die Porträts der in Flammen getöteten Gürsün Ince, Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Hülya und Saime Genç. In einem abgedunkelten Raum gibt es die Möglichkeit, nur diese Bilder zu betrachten. Aber bei der kleinsten Bewegung entsteht Unschärfe.
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Aufruf zur Versöhnung
Gegenüber stehen die Lebensdaten. Hülya Genç war neun Jahre alt. Die fleißige Schülerin konnte es kaum erwarten, ihr neues Kleid für das Opferfest zu tragen und mit ihren Freundinnen gemeinsam zu feiern. „Ohne Hass“ lautete die Devise von Mevlüde Genç. Sie rief unermüdlich zur Versöhnung auf. Noch im vergangenen Sommer schrieb sie an den Solinger Oberbürgermeister Tim Kurzbach und fragte, was mit dem Gedenken passieren werde, wenn die Zeitzeugen nicht mehr da seien.
Im Oktober starb sie. Das Konzept der Ausstellung bekam sie aber noch mit und war davon überzeugt. Direktor Jürgen Kaumkötter und seinen Kolleginnen Birte Fritsch und Hanna Sauer war es wichtig, die Opfer der Gewalt ins Zentrum zu stellen. Nicht die vier jungen Männer, die bei einem Polterabend rausflogen und wenig später an einer Tankstelle Benzin kauften, um das Haus der Gençs anzuzünden. Einer Familie, die Deutschland mittlerweile als ihre Heimat verstand, sich integrierte und zur wirtschaftlichen Aufstieg des Landes beitrug.
Die ermordeten Familienmitglieder erhalten in der Schau ein Gesicht, eine Geschichte. Sie ist in einen Kontext gebettet, der aus verschiedenen Perspektiven zeigt, wie die rechtsextreme Gewalt in der Nachkriegszeit immer gegenwärtig war und ist. Solingen ist nicht singulär. Der rassistische Anschlag steht in einer Reihe mit Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda und Mölln.
Mit dem Auto zu Tode gehetzt
Auch an Anschläge, die mittlerweile in Vergessenheit geraten sind, erinnert das Museum: Der junge Metallschlosser Sahin Calisir (20) starb am frühen Morgen des 27. Dezember 1992 auf der Autobahn 52 bei Meerbusch, als ihn drei rechtsextreme Hooligans aus Solingen verfolgten und sein Fahrzeug in eine Leitplanke einschlug.
Aber es braute sich schon weit vor Solingen an unterschiedlichsten Stellen des Landes etwas zusammen. Schon ab Mitte der 1970er Jahre gab die türkische Folkgruppe „Derdiyoklar“ in ironischen Liedern ihre Stimmung zur Lage der Nation wieder – wie im Refrain von „Liebe Gabi“ aus dem Jahr 1981: „Helmut Kohl und auch Strauss le le liebe gabi wollen Ausländer raus le le liebe gabi.“
Nach der Wiedervereinigung heizte sich die Stimmung in Deutschland auf. Am 26. Mai 1993 kam es im Bundestag zur Abstimmung über den „Asylkompromiss“ der Rechte einschränkte. 10 000 Demonstranten legten das Bonner Regierungsviertel lahm. Am Ende stimmten 521 Bundestagsabgeordnete für die Gesetzesänderung, 132 dagegen. Nur drei Tage später starben fünf Menschen bei dem rechtsradikalen Brandanschlag in Solingen – sie waren keine Asylbewerber. Einen Tag später demonstrierten rund 3000 überwiegend nationalistisch eingestellte türkische Migranten in der Innenstadt von Solingen und zerstörten mehrere Fenster von Geschäften und Autos. Die Polizeikräfte wurden durch Beamte des Bundesgrenzschutzes und der GSG 9 verstärkt.
Am 5. Juni zog eine Demonstration in Solingen erneut gewaltsame Ausschreitungen nach sich. Erstmals sind in der Schau die Transparente zu sehen, die nach den Demonstrationen im Archiv verschwanden. Der Wuppertaler Fotograf Jörg Lange hielt in intensiven Aufnahmen Gesichter im Dialog fest, zeigte Trauer und Protest, Polizeieinsätze während der Straßenkrawalle türkischer und deutscher Demonstranten. Anhand der Geschichte der Familie Genç in Verbindung mit sozialpolitischen und gesellschaftlichen Ereignissen entsteht so eine deutsche Geschichte bis in die Gegenwart. Bei der Eröffnung der Schau am 28. Mai sollen Familienmitglieder dabei sein, die auch in Videos zu Wort kommen.
Pogromstimmung
Eng verknüpft ist die Gründung des „Zentrums für verfolgte Künste“ mit der Pogromstimmung vor 30 Jahren. Nach Ausschreitung gegen Geflüchtete im gerade wiedervereinten Deutschland startete die Else Lasker-Schüler-Gesellschaft eine bundesweite Aktion, bei der Dichter in Asylbewerberheimen gegen Fremdenfeindlichkeit, Gewalt und Antisemitismus lasen. Das war Auslöser für den Aufruf von 50 Autoren, darunter Günter Grass, Salman Rushdie und Herta Müller, in Solingen das Zentrum zu gründen, was im Jahr 2015 dann erfolgte. (jan)
Bis 17. September, Di bis So 10 – 17 Uhr, Wuppertaler Straße 160.