Achtes Album von RammsteinWarum die Zeichen in „Zeit“ auf Abschied stehen
Packen die sechs jetzt echt so langsam zusammen? Sollte das achte Rammstein-Album „Zeit“ auch das letzte sein? Die künstlerischen Anzeichen zumindest, die auf einen einigermaßen zeitnahen Abschied hindeuten, verstecken sich in dem elf Songs umfassenden Werk nicht gerade subtil.
Die Vergänglichkeit lauert in jedem Song
Im letzten Lied drischt die Band mit der Rücktrittskeule regelrecht auf ihr Publikum ein. „Adieu“ heißt die Nummer, in der Till Lindemann singt: „Ein letztes Lied, ein letzter Kuss – kein Wunder wird geschehen“.
Kann natürlich sein, dass Rammstein blufft. Aber die Vergänglichkeit lauert quasi hinter jeder Ecke dieser Platte. Die ganz unironisch emotionale und musikalisch fast schon als zart zu bezeichnende Ballade „Zeit“ befasst sich letztlich auch mit niemand geringerem als dem gefürchteten Gevatter.
Mehr Melancholie denn je
Ganz grundsätzlich vermittelt dieses Album ein Gefühl, das man im Zusammenhang mit Rammstein bislang wenig kannte: Etwas zutiefst Versöhnliches. So nachdenklich und von solch immenser Melancholie war definitiv keines ihrer Album zuvor. Sei es im ersten Stück „Armee der Tristen“, in dem sie mit orchestraler Wucht im „Gleichschritt gegen Glück“ aufmarschieren.
Sei es in „Schwarz“, der erneut dramatisch und leicht in Richtung Unheilig abdriftenden Liebeserklärung an die Dunkelheit. Sei es im recht langsamen und tieftraurigen „Meine Tränen“, in dessen Text der Protagonist auf unheilvolle Weise mit seiner alten Mutter zusammenlebt: „Sie zwingt mich oft auf ihren Schoss. Auch schlägt sie immer noch in mein Gesicht.“ Oder auch im als Anti-Kirchenlied deutbaren und mit AC/DC-Gitarren ausstaffierten „Angst“: All die Charaktere, die dieses Album bevölkern, wirken nicht selten verzweifelt und verloren, in jedem Fall bemitleidenswert. Man könnte auch sagen: Nie waren Rammstein nicht nur pathetischer, sondern auch empathischer als heute.
Christian „Flake“ Lorenz dominiert die Platte
Sie hatten ja, bei aller geistreichen Genialität, auch immer etwas latent Effekthascherisches an sich. Manche Provokation nervte, frühe Flirts mit der nationalsozialistischen Ästhetik à la Leni Riefenstahl verstörten. Aber der Band haftet heutzutage etwas Gravitätisches an. Die Berliner scheinen sich ganz gemütlich eingerichtet zu haben in ihrer Rolle als Kulturgut von fast staatstragendem Rang. Lindemann wird Anfang 2023 schließlich auch schon 60.
Musikalischer Schlüsselspieler ist dennoch ein anderer: Christian „Flake“ Lorenz. Der Tastenmann prägt, ja dominiert, die Platte mit seinem Spiel. „Zick Zack“ etwa, das zweitlustigste Lied auf „Zeit“, hat mit seinem geballten Synthesizer-Einsatz was von den Pet Shop Boys, und man kann sich sogar ein kleines bisschen an Madonnas „Like A Prayer“ erinnert fühlen. Inhaltlich ist der sarkastisch funkelnde Song eine Persiflage auf den Schönheits- und Selbstoptimierungswahn nebst der dazugehörigen Chirurgie, wobei auch hier wieder mit dem eigenen Siechtum kokettiert wird.
Das könnte Sie auch interessieren:
Und gerade, als man sich damit arrangiert hat, dass dieses massiv auf Stadionkompatibilität getrimmte Album zwar musikalisch mitreißt und textlich bewegt, allerdings kaum kontroverser ist als ein Zwergkaninchen, da hauen sie doch noch einen raus. Ehrlich, der Verfasser dieses Texts kann sich nicht festlegen, ob „Dicke Titten“ nun supergenial ist oder mega cringe, wie das Jungvolk sagt. Auf jeden Fall ist es wunderbar stumpf. Schwer vorstellbar, dass dieses schon jetzt nach einem künftigen hochprozentualen Klassiker klingende Grinse-Lied nicht der Schützenfest- und Wiesn-Hit des Jahres, wenn nicht des Jahrzehnts, wird.
Rammstein: „Zeit“ (Universal), ab 29. April